Rezension

"Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft." (Wilhelm von Humboldt)

Stay away from Gretchen -

Stay away from Gretchen
von Susanne Abel

Bewertet mit 5 Sternen

Der bekannte Nachrichtensprecher Tim Monderath lebt gern als Single in Köln und genießt sein Leben mitsamt allen Freiheiten, die es zu bieten hat. Einzig die zunehmende Verwirrtheit seiner 84-jährigen Mutter Greta macht ihm Sorgen, denn die alte Dame vergisst immer mehr die Gegenwart. Als sich ihr Zustand weiter verschlechtert, bleibt Tim nichts anderes übrig, als sich mehr um Greta zu kümmern. Alte Fotos und Briefe aus der Vergangenheit lassen ihn nach und nach die Geschichte seiner Mutter erfahren, die in dem ostpreußischen Eylau ihre Kindheit verbracht hat, um dann im Zweiten Weltkrieg vor den Russen zu fliehen und nach Heidelberg kam. Beim Anblick eines Fotos von einem Mädchen dunkler Hautfarbe allerdings bringt Greta zum Verstummen und gibt Tom Rätsel auf. Was hat es mit dem Kind auf sich und was hat seine Mutter damit zu tun?

Susanne Abel hat mit „Stay away from Gretchen“ einen sehr empathischen und gefühlvollen Roman vorgelegt, der gleich mehrere diffizile Themen (wie Demenz, Krieg, Rassismus und Flucht) beinhaltet und gleichzeitig ein Frauenschicksal anhand geschichtlicher Ereignisse Revue passieren lässt. Der flüssige, bildgewaltige und einfühlsame Erzählstil lässt den Leser abwechselnd mal Tom wie einen Schatten in der Gegenwart folgen, um sein Umfeld und sein Leben kennenzulernen, führt ihn aber auch durch eine Reise in die Vergangenheit in Gretas Lebenslauf hinein, wo er ihre Erlebnisse und das ihrer Familie aus erster Hand miterlebt. Während sich Tom mit der Verwirrtheit seiner Mutter beschäftigen muss, die sich als Demenz herausstellt, erfährt er Dinge über Greta, von denen er bisher nichts wusste. Alte Geheimnisse drängen an die Oberfläche, die aufgrund der geschichtlichen Gegebenheiten lange verschüttet blieben und ihre Hüter gezeichnet haben. Die Autorin versteht es wunderbar, Gretas Geschichte mit historischen Fakten zu verweben, so dass der Leser mit ihr nicht nur die harten Zeit der Flucht aus Ostpreußen miterlebt, sondern auch in den Heidelberger Schwarzmarkt eintaucht und Gretas bittersüße Liebe zu einem farbigen GI hautnah miterlebt. Aber auch die Flüchtlingsbewegung im Jahr findet ihren Platz in dieser Geschichte und lässt die Handlung so sehr lebendig wirken. Gerade Toms Bemühungen um seine Mutter und der Austausch zwischen den beiden, wenn Greta klare Momente hat, sind unheimlich nahbar beschrieben und schicken den Leser durch ein wahres Wechselbad der Gefühle. Dies ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die Autorin aus einem Schatz an eigenen Erfahrungen schöpfen konnte.

Die Charaktere sind liebevoll ausgestaltet und in Szene gesetzt. Mit ihren sehr glaubwürdigen menschlichen Eigenheiten wachsen sie dem Leser schnell ans Herz, der sich gut in sie hineinversetzen und mit beiden Seiten fühlen kann. Tim ist beruflich erfolgreich, führt ein ausgefülltes Leben, wobei ihm Ungebundenheit und Freiheit unheimlich wichtig sind. Die Gebrechlichkeit seiner Mutter passt nicht in sein Konzept, doch muss er sich um sie kümmern. Was erst eher unwillig aussieht und ihn eher hartherzig wirken lässt, entpuppt sich nicht nur als Angst vor Lebensveränderungen, sondern auch vor Verlust. Mehr und mehr kümmert er sich fürsorglich und liebevoll um Greta, taucht in ihr Leben ein, erfährt mehr über seine eigenen Wurzeln und vor allem über den Schmerz, den Greta all die Jahre verdrängt hat. Greta hat so viele Schicksalsschläge ertragen müssen, dass ihr Vergessen eine Art Flucht vor den vergangenen Dingen ist. Auch Gretas Großeltern spielen eine wichtige Rolle in dieser Geschichte.

„Stay away from Gretchen“ ist ein wunderbarer Schicksalsroman, der mit vergangener Historie und gesellschaftlichen Normen eng verknüpft ist. Authentisch, berührend und vor allem großartig erzählt, klingt dieser tiefgründige Roman noch lange nach der letzten Seite nach. Absolute Leseempfehlung!