Rezension

Oldenburger Baby

Tim lebt! - Simone Guido, Bernhard Guido

Tim lebt!
von Simone Guido Bernhard Guido

Eigentlich sollte es Tim nicht geben. Seine Mutter hatte schon ein Kind, ein zweites war kurz vor der Geburt gestorben, und als sie während der Schwangerschaft erfuhr, dass das neue Baby das Down-Syndrom habe, war für sie klar: Das schaffe ich nicht! Eher bringe ich mich um. Wenn das Leben der Mutter gefährdet ist, ist ein Schwangerschaftsabbruch zu jedem Zeitpunkt möglich. So erfolgte im siebten Schwangerschaftsmonat eine Abtreibung, indem die Geburt eingeleitet wurde. Doch wider Erwarten überlebt das Baby: Es wiegt 690 Gramm, ist 32 Zentimeter klein, hat eine unregelmäßige Schnappatmung, eine langsame Herzfrequenz und bewegt sich nicht. Das Kind wird nicht medizinisch betreut: Es soll ja sterben, und normalerweise tritt unter diesen Bedingungen sehr schnell der Tod ein. Doch Tim lebt weiter, und nach neun Stunden wird er endlich als Mensch mit eigenen Rechten anerkannt und versorgt. Mittlerweile sind weitere Schäden eingetreten.

Schlechter kann ein Start in diese Welt wohl kaum ablaufen. Und doch: Tim kämpft ums Überleben, er übersteht zahlreiche Komplikationen und Operationen. Es findet sich ein Pflegeelternpaar: Simone und Bernhard Guido, die ihn zu ihren beiden leiblichen Söhnen in die Familie aufnehmen. Das Ausmaß seiner Behinderung wird erst nach und nach deutlich: Tim hat nicht nur das Down-Syndrom, er hat auch autistische Züge, eine schwere geistige Behinderung, lernt nicht schlucken und muss künstlich ernährt werden, kann kaum sprechen, hat eine Fußfehlstellung... Doch Tim hat auch einen unbändigen Lebenswillen, er strahlt Lebensfreude aus und beeindruckt Menschen, die ihm offen begegnen, durch seine Persönlichkeit. Familie Guido ist überzeugt, dass Tim ihr Leben bereichert.

Dieses Buch wurde von Tims Pflegeeltern gemeinsam mit der Autorin Kathrin Schadt geschrieben. Es ist zweigleisig aufgebaut: Die ungeraden Kapitel gehen Tims Lebensweg nach vom Verdacht auf das Down-Syndrom bis zum Anruf des Jugendamtes bei der Pflegefamilie in spe. Dabei werden auch einige rechtliche und medizinische Aspekte um Abtreibung und Behinderung angesprochen. Die geraden Kapitel beschreiben die Gegenwart: Die Vorbereitungen und schließlich die Feier zu Tims 18. Geburtstag und Volljährigkeit. Das Kind, das nicht leben sollte, ist im Sommer 2015 erwachsen geworden.

Das Buch beschreibt nicht nur Tims Leben quasi von außen, es lässt auch seine Bezugspersonen zu Wort kommen. Immer wieder werden Auszüge aus Interviews eingestreut: Mit Pflegevater und -mutter, deren beiden leiblichen Söhnen, mit Onkel, Tante und Oma, der Nachbarin, mit Lehrern, Therapeuten, Betreuern und Pflegehelfern, mit Freunden der Familie und auch mit dem Arzt, der vor 18 Jahren die Geburt/Abtreibung betreut hat. Diese vielen Perspektiven sorgen dafür, dass der Leser keine einseitige Stellungnahme erhält. Natürlich überwiegt die positive Einstellung, doch wird das Bemühen deutlich, die leibliche Mutter von Tim nicht zu verurteilen. Und so hat der Leser die Gelegenheit, einen außergewöhnlichen Menschen mit einer ganz besonderen Lebensgeschichte kennen zu lernen.

Das Buch wirft viele Fragen auf: Ist unsere Gesetzgebung in Bezug auf Abtreibung wirklich angemessen? Wann wird ein Mensch zum Menschen? Wer ist lebens-wert, wer nicht? Wer darf darüber entscheiden? Und die Fragen werden auch persönlich: Wie würde ich entscheiden, wenn ich vor der Geburt von einer Behinderung meines Kindes erführe? Würde ich mich für oder gegen es entscheiden? Mit welcher Behinderung könnte ich umgehen, was wäre für mich unerträglich? Könnte ich neben den Defiziten auch das Positive sehen? Wie gehe ich im Alltag mit Menschen mit Behinderung um? Wie mit Menschen, die aus anderen Gründen Außenseiter in der Gesellschaft sind? Was für ein Mensch bin ich selbst?

Ein Buch, das den Leser nicht unberührt lässt.