Rezension

Packend, intensiv und realistisch

TOM
von Dorothea Müller

Bewertet mit 5 Sternen

»Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. (§2 StVollzG)«

Tom sitzt im Gefängnis. Wofür er verurteilt wurde, wird nicht thematisiert, aber es wird schon deutlich, dass es sich um eine mehrjährige Haftstrafe handelt, die er absitzen muss. In der Einsamkeit seiner Zelle und dem streng geregelten Alltag kann er den Gedanken, die ihn bestürmen, nicht entkommen. Toms ganzes Sein besteht aus Wut, Enttäuschung und Erinnerungen, die er tief in sich begräbt. Ganz sicher gibt es für ihn nichts in der Zukunft, auf das er hoffen oder auf das er hinarbeiten kann! Zwei Mithäftlinge und ein ehrenamtlicher Betreuer schaffen es, zu ihm durchzudringen und plötzlich erkennt Tom, dass es da doch noch etwas für ihn geben könnte – aber er muss auch seinen Anteil dazu beitragen. Ein schwerer und völlig neuer Weg liegt vor ihm…

 

Als ich dieses Buch entdeckte, reizte es mich sofort, weil es einen Einblick in die ganz besondere Welt „Gefängnis“ versprach, von der man – wenn im Leben alles „normal“ verläuft, gewöhnlich keine Ahnung hat. Die Autorin aber weiß, wovon sie schreibt, denn sie hat in zehn Jahren als ehrenamtliche Betreuerin im Strafvollzug, als Schöffin am Jugendgericht und nach drei Jahrzehnten als Lehrerin in einer Schule für Kinder mit Lernbehinderung ausreichend Einblicke gesammelt und viele „Karrieren“ straffällig gewordener Jugendlicher miterlebt.

 

Die Schilderungen wirken realistisch und ungeschönt. Auch sind sie in keiner Weise einseitig, im Gegenteil. Es gibt geradezu bösartige Schließer, die ihre Machtposition auszunutzen scheinen – im Gegensatz dazu aber wirklich nette Vollzugsbeamte (hier zum Beispiel „Papa Witt“). Es gibt Mithäftlinge, denen man tunlichst aus dem Weg gehen sollte und solche, die sozial umgänglich sind und zu Freunden werden können. Es gibt Einsamkeit, Zwang und Unfreiheit, aber auch Bildungsangebote, Betreuung und Halt durch Regeln.

 

Tom steht vor diversen Schwierigkeiten. Er kommt aus einem bildungsfernen Umfeld, er hat keinen Schulabschluss, kann kaum lesen und schreiben. Für ziemlich viele Dinge im Gefängnis müssen die Häftlinge aber Anträge schreiben, eine gewaltige Hürde für Tom. Und die Bildungsangebote? Die Betreuung? Die angebotenen Gruppen? Tom hat in seinem Leben nicht gelernt, zu jemandem Vertrauen zu haben und seine Probleme hat er gewöhnlich entweder durch Weglaufen oder durch Gewalt gelöst.

»Wie soll jemand resozialisiert werden, wenn er doch schon vorher nie sozialisiert war?«

 

Das Buch stellt kritische Fragen, hält sich aber weder mit Schuldzuweisungen auf noch damit, jemanden zu bedauern. Weder soll mit dem erhobenen Zeigefinger das Bild des Strafgefangenen als Mahnung präsentiert werden, noch soll der Leser vor Mitleid mit Tom und seiner schweren Kindheit zerfließen. Es geht letztlich darum zu zeigen, dass man selbst für sich und sein Schicksal die Verantwortung übernehmen muss – und das ist eine Wahrheit, die für jeden gilt, nicht nur für straffällig gewordene Menschen.

 

Die Schilderung ist lebendig, immer ganz nah dran an Tom, seinen Gedanken und Gefühlen. Wenn in seinem Kopf alles durcheinander geht, weil er selber noch nicht versteht, was in ihm vorgeht, dann kann man das als Leser genau nachempfinden.

 

Für Begriffe, die der „Nicht-Knacki“ vielleicht nicht versteht, gibt es im Anhang das „Knacki-Wörterbuch“, außerdem Auszüge aus dem Strafvollzuggesetz, das in Gefängnissen gilt. Durch Querverweise im Text wird immer wieder darauf Bezug genommen.

 

Fazit: Ein packendes Thema, intensiv und realistisch geschrieben. Leicht zu lesen und trotzdem mit viel Stoff zum Nachdenken. Ein Jugendbuch, das auch den erwachsenen Leser anspricht.

 

»Es hat lange gedauert, bis er wirklich begriffen hat, dass er für sich und seine Sachen mit verantwortlich ist. Und zwar egal, wie die Bedingungen sind oder waren.«