Rezension

Perspektivwechsel ?

Migration -

Migration
von Hein de Haas

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Habe ich gerne gelesen! Jetzt hätte ich gerne ein Buch, das eine Gegenmeinung vertritt. Ein ernsthaftes natürlich. Nicht von der Querdenkerseite.

Hein de Haas ist Professor für Soziologie und Geographie in Amsterdam, überdies Professor für Migration und Entwicklung in Maastricht und leitet das International Migration Institut in Oxford. Seit mehr als dreißig Jahren beschäftigt er sich beruflich mit den Phänomenen der Migration. Er sollte also wissen, wovon er spricht und sein Sachbuch über Migration stützt sich auf Zahlen, Fakten und wissenschaftliche Studien und Erhebungen.  
Das wirklich erhellende Sachbuch über Migration ist genauso aufgebaut, wie es der Untertitel verspricht. Es wird eine These in den Raum gestellt, ein sogenannter Mythos, und danach wird erklärt „was wirklich dahintersteckt“. Hein de Haas schreibt absolut verständlich und wenn man ihm an der Präsentation seiner Thematik überaupt etwas vorwerfen könnte, dann wäre dies vielleicht die pädagogische Absicht, seinerzeit seinen Studenten und jetzt seinen Lesern durch häufige Wiederholungen etwas ins Gehirn zu hämmern! Ich gebe zu, dass mich diese Art der Didaktik genervt hat, denn ich habe schon beim ersten Mal begriffen, dass (die allermeisten) Migranten ihr Land nicht deshalb verlassen, weil sie arme Schlucker sind und verzweifelt irgendwo anders, egal wo, Hauptsache Westen, auf ein besseres Leben hoffen (das durchaus auch), sondern, dass sie gezielt auf die Nachfrage nach Arbeitskräften reagieren. Mit anderen Worten, Konjunktur schreit laut nach Arbeitskräften (und dann kommen sie; wenn auch mit einer gewissen zeitlichen Versetzung) und Rezession hält Migranten davon ab, ins Land zu kommen und/oder lässt sie wieder abwandern. Die Wirtschaft also bestimmt den Kreislauf von Kommen und Gehen, der jedoch behindert wird, wenn Einreisebeschränkungen Migranten davon abhält, auf Konjunkturschwankungen zu reagieren. Sie bleiben hauptsächlich dann im Land, legal oder illegal, wenn ihnen das Hin- und Herreisen verwehrt wird. Das ist das Wichtigste in Kürze und ich habe es so oft gehört in dem Buch dass ich es im Schlaf herunterbeten kann. 

Die „Mythen“ lauten: 1. Die Migration bricht alle Rekorde, 2. Unsere Grenzen sind nicht mehr sicher, 3. Die Welt steht vor einer Flüchtlingskrise, 4. Unsere Gesellschaft ist vielfältiger denn je 5. Migration lässt sich mit Entwicklungshilfe eindämmen, 6. Migration ist die verzweifelte Flucht aus dem Elend, 7. Wir brauchen keine ausländischen Arbeitskräfte, 8. Ausländer nehmen uns die Arbeit weg und drücken die Löhne, 9. Zuwanderung ist eine Gefahr für den Sozialstaat, 10. Die Integration ist gescheitert, 11. Massenmigration schafft Parallelgesellschaften, 12. Zuwanderung bringt mehr Verbrechen, 13. Migration führt zu Talentschwund, 14. Zuwanderung ist das Allheilmittel für die Wirtschaft, 15. Zuwanderung ist die Lösung für die alternde Gesellschaft, 16. Die Grenzen werden dichtgemacht, 17. Linke sind für, Rechte gegen Migranten, 18. Die Öffentlichkeit hat genug von Zuwanderung, 19. Menschenschmuggel ist der Grund für illegale Migration, 20. Menschenhandel ist eine moderne Form der Sklaverei, 21. Zuwanderung lässt sich durch Beschränkungen vermindern, 22. Der Klimawandel entfesselt eine Völkerwanderung. 

Der Kommentar: 
Es ist natürlich nicht so unkompliziert, wie es sich auf den ersten Blick ausnimmt oder anhört. Und man muss die Schlussfolgerungen Hein de Haas nicht eins zu eins übernehmen, trotzdem sind die aufgeführten Erhebungen dazu angetan, manchen Sachverhalt noch einmal zu überdenken.
Was ich vor allem mitgenommen habe: Positiv - dass die Menschheit zwar den Zenit ihrer Vermehrung noch nicht überschritten hat, dass die Forscher aber damit rechnen, dass die Menschheit sich langfristig vermindert. Der Autor macht daraus die Hypothese, dass der ungehinderte Zugriff auf „eine sozusagen unbeschränkte Anzahl von Arbeitskräften (Arbeitsmigranten)“ und das Jammern darüber, sich alsbald (na ja bald) in ein Konkurrieren um den Zuzug von Arbeitsmigranten verwandeln wird. Bei den Fachkräften ist das ja längst so, aber Hein de Haas meint, dass dieses Phänomen sich bald (na ja bald) auf die gesamte Migration beziehen wird. Dies lässt aufhorchen: also werden wir uns bald danach strecken, dass Menschen zu uns kommen. Aber wie gesagt, „bald“ ist relativ.
Negativ - dass Migration, selbst wenn sie in großem Maßstab erfolgt, hauptsächlich der Wirtschaft nützt, die Wohlhabenden, die Unternehmer und die Reichen davon im Übermaß profitieren, während „die Masse“ unter den damit einhergehenden gesellschaftssoziologischen Verwerfungen zu leiden hat, weil sie diese Verwerfungen nämlich ausschließlich zu schultern und zu tragen hat. Ja, das wissen wir. Und deswegen sind wir sauer.
Hein de Haas macht die Politik für die allermeisten Missstände verantwortlich und verschweigt seine Ansicht nicht: die Politik geht mit seinen Arbeitskräften mies um und hofiert die Wirtschaft. Und so war es schon immer. Aber muss es immer so bleiben?

Hilfreich finde ich bei den Betrachtungen von Hein de Hass, dass er den Blick von der Kurzsichtigkeit unseres Lebens auf einen langfristigen Zeitraum und Zusammenhang lenkt. Diesen Pespektivwechsel müssen wir uns insgesamt angewöhnen. 

Besonders bei der These, die Integration sei gescheitert, merken wir, dass eine langfristige Betrachtung die Resultate ändert. Auf die dritte und vierte Generation hin gesehen, geschieht Integration. Das ist Fakt. Sineb al Masar beschreibt dies in launigem Kontext in ihrem Buch „Sind wir nicht alle ein bisschen Alman“. Ob wir wollen oder nicht, schreibt sie, wir (die ehemaligen Migranten) sind bereits deutscher als wir denken. Übrigens: oft schafft es schon die zweite Generation. Und "alman" ist ein Platzhalter.  

Fazit: "Migration" ist ein Sachbuch, das mit populären Thesen hart ins Gericht geht und eine kritische Sicht auf Politikerparolen wirft. Versteht mich nicht falsch bei diesem Resümee: die Arbeit der Politiker ist wichtig, schließlich muss auch sie gemacht werden, trotzdem muss man genau hinschauen und hinterfragen. Ich gebe eine Leseempfehlung.

Kategorie: Sachbuch. Soziologie. Migration.
S. Fischer-Verlag, 2023