Rezension

Prinzessin oder Prinzesserich?

Rusalko -

Rusalko
von Kerstin Hensel

Bewertet mit 4 Sternen

Sehr hübsch illustriertes Bilderbuch mit reizenden Charakteren und gleichzeitig ein Plädoyer für Toleranz und Akzeptanz.

Ein 'alter Märchenstoff in neuem Gewand'? So liest man es in dem Covertext, aber so recht möchte es mir nicht gelingen, Parallelen zu ziehen zu den ursprünglichen Märchen beziehungsweise Mythologien. Da ist zum einen das Märchen 'Die kleine Meerjungfrau' von Hans Christian Andersen, zum anderen die Volkssaga 'Rusalka' aus dem slawischen Sprachraum. Rusalken sind Wasser-, Wald- oder Feldgeister, mal schöne junge Mädchen, mal hässliche alte Frauen, je nach Region. Die Heldin in Kerstin Hensels Unterwassermärchen Rusalko, hat lediglich den Namen gemein mit besagten Sagengestalten, in abgewandelter Form jedoch – aus gutem Grund, wie man sehen wird. Und Andersens 'Kleine Meerjungfrau'? Nun, ihr nachempfunden ist in gewisser Weise Rusalkos treulose Mutter Unda (der lateinische Name von 'Undine', einem Wassergeist, also einer Nixe), die nach der Geburt des Kindleins, das sie mit dem königlichen Nix Rochus von Rochenburg hatte, in eine Sinnkrise geriet und sich selbst und ihre Gestalt – 'obenrum Mensch und untenrum Fisch' – in Frage stellte. Ihr ganzes Leben lang mit einem Fischschwanz und nach Hering stinkend verbringen, nicht wissen, wer sie war? Nein, weibliche Attribute wie hübsche Füße und feines Schuhwerk, dazu noch jemanden, der sie glücklich machte, genau das wollte Unda – und sofort fühlt man sich an Andersens so bezauberndes wie tragisches Märchen erinnert. Denn auch Unda bekam schließlich, was sie nicht wollte und was bei dem dänischen Schriftsteller unumkehrbar war!

Was aber brachte die schöne Unda, heißgeliebt von Nix Rochus, dazu, nach einem anderen Leben zu verlangen? Denn eigentlich ist die Geburt eines Kindes ja wohl ein freudiges Ereignis, nicht wahr? Gibt es Wochenbettdepressionen etwa auch bei den Unterwasserwesen? Kann gut sein, obschon es das Kind selbst war, das Unda aus allen Wassern stürzen ließ! Rusalka, denn diesen wohlklingenden Namen gab man dem Töchterchen ursprünglich, war zwar hübsch anzuschauen, aber war sie denn wirklich ein Mädchen, zart und fein mit lieblicher Stimme, wie es sich nun einmal gehört für ein solches? Kurz und gut, Rusalka schaute spitzbübisch in die Wasserwelt hinaus, sang mit tiefer Stimme und war von kräftiger Gestalt. Alles Attribute, die sich für einen Nix geziemen, nicht aber für eine Nixe!

Nachdem Unda die Unterwasserwelt unklugerweise mit dem Leben an der Seite eines versoffenen Fischers getauscht hatte, war es Rochus überlassen, mit dem fröhlichen 'Tomboy' Rusalka und den Vorurteilen (man sieht, dass sich Menschen- und Nixenwelt nicht wirklich unterscheiden), die seiner geliebten Tochter allenthalben entgegenschlugen, fertigzuwerden. Erstaunlich tolerant suchte er eine Lösung und meinte dann befriedigt, sie auch gefunden zu haben: seine Rusalka sollte von nun an den Namen Meerjungsfrau Prinzesserich Rusalko von Rochenburg tragen, was Rusalka mit Begeisterung erfüllte, klang der neue Name doch sowohl mädchen- als auch jungenhaft! Aber ob eine bloße Namensänderung die Meeresvölker zu einem Umdenken, zu mehr Toleranz und Akzeptanz denjenigen gegenüber, die anders waren, die aus dem Raster des 'Normalen' herausfielen, bewegen konnte, mag man zu Recht stark anzweifeln! Die Empörung allüberall waberte – und wuchs ins Unermessliche, als sich dann auch noch der garstige Wellengott, oberster Herrscher der nassen Gefilde, der bezeichnenderweise nur aus zwei Elementen – Wasser und Wut nämlich – bestand, einmischte, denn er duldete nichts, was anders war. Alles hatte so zu bleiben, wie es schon immer war. Man sieht, langsam fühlt man sich als Leser richtig heimisch da unten bei den Wasserwüterichen...

Zum Glück war der neuernannte Prinzesserich, den sein Vater so gut es ging von dem Zorn des Volkes fernzuhalten versuchte, kein Angsthase und stattdessen mit jeder Menge Courage ausgestattet. Wenn schon die zu ihrem Schutze abgestellten Wächter sich vor Angst zitternd verkrochen und sogar ihr Vater nicht zu gebrauchen war, um dem Wellengott-Choleriker, der inzwischen munter seinem Zorn freien Lauf ließ und Tsunamis und andere Katastrophen über die Ozeane schickte, Paroli zu bieten, musste Nix-Nixe Rusalko persönlich tätig werden. Und da das Glück bekanntlich mit den Tapferen ist, oder 'Fortes fortuna adiuvat', wie es der Lateiner sagt, findet sie in der mächtigen uralten Meeresschildkröte Margot, der man allenthalben mit großem Respekt begegnet, eine Verbündete – denn ohne solche geht es nun mal nicht, weder in der Luft, auf der Erde noch im Wasser! Und dann geht es so richtig zur Sache! Aber wie das im Einzelnen aussieht muss man schon selber herausfinden, doch soviel darf gesagt werden: es wird spannend und dabei außerordentlich amüsant. Und wenn gar am Ende das eigentlich Unumkehrbare nun doch noch umkehrbar ist, kann man sich noch ein zweites Happy End ausmalen....

Summa summarum: Obgleich ich 'Rusalko' keineswegs als Adaption der beiden zu Anfang erwähnten Märchen respektive Sagen betrachte, wie dies irreführenderweise suggeriert wird, sondern als etwas ganz und gar Eigenständiges, finden wir in dem wirklich schön bebilderten Buch natürlich sehr bekannte Elemente. Allerdings gepaart mit einer Thematik, die immer wieder aufs Neue zu heftigen Debatten führt, was im hier zu besprechenden Märchen, so wie ich es gelesen habe, ad absurdum geführt wird. Also weg mit allem Überkommenen, Tradierten? Keineswegs! Was zählt ist offen zu bleiben, tolerant, vermeintlich oder tatsächlich Andersartiges zulassen, als womöglich sogar bereicherndes, auf jeden Fall aber den Alltag farbiger und fröhlicher machendes Element. Wer das nicht versteht, dem ist nicht zu helfen! Kerstin Hensel jedenfalls hat ihr Möglichstes getan mit ihren reizenden Charakteren und nicht zuletzt mit ihrer phantasievollen Erzählsprache, den zahllosen Wortschöpfungen, auch wenn ich manche davon als übertrieben und überzogen ansehe, diese ihre Botschaft in die Hirne der Kleinen (ganz wichtig!) und der Großen (noch wichtiger!) zu hämmern. Ein Bilderbuch, das gewiss seinen Platz in einer sorgfältig zusammengestellten Bilderbuchsammlung bekommen und behalten wird!