Rezension

Provokation pur!

Tick Tack -

Tick Tack
von Julia Lucadou

Bewertet mit 3.5 Sternen

Julia von Lucardo will mit ihrem hochaktuellen Roman „Tick Tack“ provozieren. Das wird bereits beim ersten Blick in das Buch deutlich, denn die vielen „#“ und die unkonventionelle Aufmachung der Seiten, die Posts auf Internetseiten gleichen, fallen dem Leser direkt ins Auge. Ob es der Autorin auch gelingt, dieses innovative Setup in konstruktive Gedankengänge und einen überzeugenden Plot zu übersetzen bleibt hingegen lange offen.

Die 15-jährige Protagonistin, Almette Odenthal, ist ein sehr intelligentes Mädchen aus gutem Hause. In der Pubertät leidet sie unter ihren „Helikoptereltern“ und sehnt sich gleichzeitig nach der Aufmerksamkeit von Gleichaltrigen. Nach einem Streit mit ihrer besten Freundin unternimmt Mette einen Selbstmordversuch, der scheitert. Von der Psychologin, zu der sie geschickt wird, hält sie ebenso wenig wie von den anderen Erwachsenen ihres Umfelds. Lieber flüchtet sie sich in ihre „Social-Media-Welt“, denn nach dem dort angekündigten Selbstmordversuch steigen ihrer Followerzahlen. Diese explosive Gesamtsituation macht sie hier zum idealen Opfer. So dauert es nicht lange, bis Jo, der Halbbruder einer Klassenkameradin, auf das unglückliche und übergewichtige Mädchen aufmerksam wird. Der um 10 Jahre ältere Jo ist mindestens genauso frustriert wie die Teenagerin, denn er ist das schwarze Schaf der Familie. An der Uni ist er gescheitert, so dass er nun wieder in sein Kinderzimmer gezogen ist. Von hier verbreitet er seine Wut und seinen Hass im Internet, denn er selbst nimmt sich als unverstanden und verkanntes Genie wahr. In seinen Internet-Blogs wird jedoch seine ganze Wut deutlich und das ist wohl auch der Grund, warum er hier mit seiner vermeintlichen „Gesellschaftskritik“ so erfolgreich ist. Es kommt wie es kommen muss: Mette lässt sich auf ihn ein, und er verschafft ihr Likes. Dadurch gelingt es ihm, sie immer stärker zu manipulieren. Sie wird zunehmend zu seiner Marionette und seinem Sprachrohr für krude Theorien. In der Coronapandemie spitzt sich die Situation noch zu und beide tauchen immer tiefer in die Parallelwelt der Verschwörungstheoretiker ein…

Die Protagonisten sind insgesamt gut skizziert und interessant angelegt. Sie strotzen voller Sarkasmus und Hass, sind trotzig, überheblich und doch extrem verletzlich. In ihnen steckt eine Menge Wut, deren Ursachen der aufmerksame Leser zwischen den Zeilen erkennen kann. Mette ist ein überbehüteter, pubertierender Teenager und strapaziert damit nicht nur die Nerven der hilflos erscheinenden Eltern. Jo hingegen ist von Anfang an gefährlich. Seine wütenden Interneteinträge weisen ein hohes Aggressionspotential auf und verstören den Leser vollkommen. In der Corona-Pandemie steigert sich seine Wut in gefährlichen Hass. Typische Plattitüden von Querdenkern und Verschwörungstheoretikern finden Eingang in seine Sprache. Dem Leser wird – ohne den pädagogischen Zeigefinger zu stark zu schwingen – klar, wie es zu einer solchen Entwicklung kommen kann. Sprachlich manifestiert sich dies durch kurze, abgehackte bzw. unvollendete Sätze, die zumeist mit Gifs, Hashtags und Links gespickt werden.

Die eigentliche Provokation geht insofern vom Schreibstil aus. Er ist an die Social-Media-Welt angelehnt und fordert dem (nicht mehr jugendlichen) Leser einiges an Geduld ab, denn er ist mit Anglizismen und Begriffen der Jugendsprache nur so überfrachtet. Auch die Syntax ist diesem Milieu angepasst. Dennoch kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass der Stil gerade deshalb als Mittel eingesetzt wird, denn Mette und Jo fühlen sich ja vollkommen unverstanden. Durch den Stil wird das nur unterstrichen, denn er schafft eine enorme Distanz.  

Provokant könnte auch empfunden werden, dass vieles am Ende offen bleibt. Das Ende muss selbst konstruiert werden und fordert den Leser auf angenehme Weise. Aber auch die vielen unterschwelligen Konflikte und Probleme kann der Leser nur erahnen und provozieren somit viele Hypothesen.

Insofern ist „Tick Tack“ ein provokantes und auch unbequemes Werk, dass jedoch plausibel aufzeigt, wie sogenannte Verschwörungstheoretiker ticken. Ihre Verblendung und die damit verbundene Flucht aus der Realität in ihre mediale Scheinwelt wird mehr als deutlich. Dazu bedarf es allerdings nicht dieser Überfrachtung des Jugendjagons. Hier wird der Bogen eindeutig überspannt. Insofern hätte man aus dem dramatisch gut angelegten Plot mehr machen können. Provokation ist eben nicht alles!