Rezension

Psychologisch hochinteressant - und ein zögernder Erzähler

Der Sommer mit Ellen - Agnete Friis

Der Sommer mit Ellen
von Agnete Friis

Bewertet mit 4 Sternen

Als Jakob 15 Jahre alt ist, möchte sein Vater, dass er einen Ferienjob beim Landhandel übernimmt, in dem der Vater arbeitet. Doch Jakob will lieber bei seinem Großonkel Anton auf dem Hof arbeiten. Der Junge packt gern überall dort mit an, wo es staubt und stinkt, auch auf dem Hof seines Freundes Sten.  In Nordjütland muss das 1976 ein durchschnittlicher Sommer gewesen sein, der Jugendlichen genug Geld einbrachte, um  sich einen besonderen Wunsch zu erfüllen. Heute ist Jakob an die 50, verwickelt in eine anstrengende Trennung von seiner Ex Kirsten und betreibt ein gut gehendes Architekturbüro in Kopenhagen. Ein Anruf von Anton Svenningsen ruft Jakob in das Dorf seiner Jugend zurück und gibt Agnete Friis‘ Lesern zunächst einige Rätsel auf. Warum soll Jakob Ellen suchen für Antons Bruder Anders – und wer überhaupt ist Ellen?

Jakob als Icherzähler braucht eine Weile, ehe er die Verhältnisse zwischen ihm, den Onkeln und einigen anderen Figuren entwirrt hat. Anton (heute fast 90) und Anders (heute über 90) haben schon damals eine sehr spezielle Männerwirtschaft geführt, weil Anders geistig behindert ist und nicht allein leben kann. 1976 war der Sommer, in dem Stens Schwester verschwand und in dem Jakob seine Sexualität entdeckte. Voller Verwunderung und Scham beobachteten Sten und Jakob die „Kommune“ des Dorfs, zwei junge Paare, kaum älter als sie selbst, die mit hochfliegenden Plänen ins Dorf gezogen waren und zum Spott der Erwachsenen den Kampf gegen Würmer und Schnecken im Gemüsegarten kläglich verloren. Nach einer Beziehung zwischen Jakob und Ellen aus der Kommune, die wir heute von Ellens Seite aus als übergriffig bezeichnen würden, zieht Ellen im Streit mit ihrem Mann zunächst zu Anton und Anders auf den Hof, um kurze Zeit später ganz zu verschwinden. Angeblich hat seitdem nie wieder jemand etwas von ihr gehört. Die Suche nach Ellen wird für Jakob zur Suche nach seiner Mitschuld an Ereignissen, die er bisher stets verdrängt hatte.

Aus dem Verschwinden von zwei jungen Frauen, dem erotisch aufgeladenen Verhältnis zwischen Jakob und der wenig älteren Ellen und dem Versuch, in der Gegenwart Kontakt zum hochbetagten Anders herzustellen, spinnt Agnete Friis irgendwo zwischen Psychothriller und Coming-of-Age-Roman eine düstere Geschichte. Eine Vielzahl von möglichen Konflikten und Motiven lauern darin: Vater und Sohn, im Dorf bleiben oder fortgehen, Bauern und Kommune, Jugendlicher und engster Freund, Sexualität und schließlich der politische Hintergrund der 70er Jahre, als erwartet wurde, dass man sich zwischen Freund und Feind eindeutig entscheidet. Die Autorin erzählt im Nachwort, dass sie eine fiktive Geschichte in einem authentischen Milieu angesiedelt hat. Psychologisch fand ich Friis‘ Roman hochinteressant, auch wenn es mir etwas zu lange gedauert hat, bis Jakob die Dinge endlich auf den Tisch packte.