Rezension

Republikflucht und ihre Folgen

Gittersee -

Gittersee
von Charlotte Gneuss

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Seitdem Paul weg war, wollte ich gerne innehalten, aber das Leben ging die ganze Zeit weiter, die ganze Zeit schlug es auf mich ein, und da half es nichts, sich tot zu stellen.“

Karin Köhler ist während der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts 16 Jahre alt und erzählt aus ihrem Leben in einem Stadtteil südwestlich von Dresden. Sie ist verliebt in Paul Forster, der sie zu einem Ausflug in die Tschechei überreden will. Doch sie wagt nicht, die Eltern um Erlaubnis zu fragen. Schließlich muss sie sich um die kleine Schwester kümmern, weil die Mutter arbeitet und die Oma mit dieser Aufgabe überfordert wäre. Karin ahnt nicht, dass Paul nicht mehr zurückkommt und kann es später kaum glauben, dass er sich der Republikflucht schuldig gemacht hat. Natürlich wird sie befragt, kann aber keine Auskunft geben. Wir begleiten sie durch ihren Alltag und lernen ihre Familie sowie die Freunde kennen. Immer wieder kommt Wickwalz und befragt sie. Er setzt sie sogar als Spitzel ein, ohne dass sie selbst es bemerkt. Sie leidet inzwischen unter dem Verlust von Paul so, dass ihre Schulleistungen nachlassen. Erinnerungen an gemeinsame Zeiten mit Paul wechseln sich ab mit Episoden aus ihrem Tagesablauf.

Charlotte Gneuß wurde 1992 im westdeutschen Ludwigsburg geboren und hat in Dresden und Leipzig studiert. Dass sie die Zeit, über die sie schreibt, nicht selbst erlebt hat, fiel ihr nach der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2023 (Longlist) auf die Füße. Sie kann nur die Erzählungen ihrer Eltern wiedergeben und mit eigenen Ideen ausschmücken. Dass da nicht alles wahrheitsgetreu ist, hat mich beim Lesen nicht gestört. Schließlich habe ich die Gegend, in der das Geschehen stattfindet, auch erst vor 15 Jahren kennengelernt.

Ich habe den Roman sehr gern gelesen und dabei einen Einblick in die Zeit bekommen, als Deutschland noch aus zwei Staaten bestand und Republikflucht aus der DDR ein schlimmes Verbrechen war. Es gelang mir, mich in das vor Sehnsucht verzweifelnde Mädchen hineinzudenken. Die Erinnerungen an die gemeinsam mit Paul verbrachte Freizeit in der Sächsischen Schweiz waren herzerwärmend, auch wenn mich ihr Talent zum Klettern erstaunt hat und das Baden in der Elbe auch heute nicht unbedingt üblich ist. Dass die Wände damals Ohren hatten, ist nichts Neues; ebenso wie das Zusammenleben in Großfamilien. Da ich selbst Karins Generation angehöre und Brieffreunde in der DDR hatte, war mir die gesamte Situation nicht ganz unbekannt, obwohl ich meine Jugend im Westdeutschland verbrachte.

Natürlich ist es wichtig, die deutsch-deutsche Vergangenheit aufzuarbeiten, aber ich fände es genauso wichtig, nach über dreißig Jahren „Einheit“ die Annäherung von Ost und West zu forcieren.