Rezension

Russland, oh Russland.

Doktor Shiwago - Boris Pasternak

Doktor Shiwago
von Boris Pasternak

Bewertet mit 3.5 Sternen

Russland im Umbruch. Vom Zarenreich über die Staatsduma (1905) bis zur Abdankung des letzten Zaren Nikolaus II (1917) und darüber hinaus, das ist der Zeitraum in dem Pasternak seine Protagonisten alle Umwälzungen und Brüche der ehemaligen Ordnung miterleben lässt; mit der persönlichen Lebensgeschichte Doktor Shiwagos und seiner großen Liebe Larissa. Den meisten dürfte die Handlung aus der gleichnamigen Verfilmung bekannt sein, deshalb möchte ich mich auf meine Leseerfahrung beschränken.

Es fiel mir anfangs schwer, mich auf die vielen russischen Namen zu konzentrieren und hätte ich mich mit etwas mehr Geduld in die Eigenarten der russischen Namensgebung vertieft, so wären mir bestimmt eine Menge Fragezeichen zum Personal erspart geblieben. Später sah ich in einer älteren Ausgabe, die von Reinhold von Walter übersetzt wurde, sowohl im Vorspann ein Register der wichtigtsen Personen, als auch im Nachspann eine komplette Aufzählung Aller. Eine neuere Ausgabe, übersetzt von Thomas Reschke im Fischer Verlag, erspart sich diese Hilfestellung (warum auch immer).

Die europäische Geschichte um die Jahrhundertwende bis zum Ersten und Zweiten Weltkrieg ist mir einigermaßen bekannt, doch gibt es immer wieder weiße Flecken auf dieser Karte, die sich durch solche Bücher mit Farbe füllen. Russland schlitterte von der Revolution in den Krieg und, nicht zuletzt auch seiner unermessliche Größe geschuldet, ins Chaos und in Hungersnöte. Die Stimmung im Land, die unterschiedlichen revolutionären Kräfte, die Härte des Klimas, das auch auf seine Beherrscher abzufärben scheint, erschütterten das Volk in seinen Grundfesten. Was vordem zuoberst und festgefügt schien, worin sich ein jeder eingefügt hatte, wurde umgewälzt, nach unten gekehrt und orientierungslos liegengelassen, bis die nächste Welle, die nächste politische Gruppe sich neuer Rechte ereiferte. Verunsichert und ums Überleben kämpfend, musste man sich fürs Kämpfen, oder fürs Verstecken entscheiden. Kaum einer wusste, er als nächstes seinen Kopf verlieren würde.
In all diesen Wirrnissen erleben wir Doktor Shiwago, wie er mit seiner Frau Tonja eine kleine Familie gründet, sich aber trotzdem weiterhin mit Lara trifft, der er auf seinen Wegen durch das Land erstaunlicherweise immer wieder trifft. Aber auch Lara hat ihre Vergangenheit und bestreit ihr Leben allein, fern von ihrem totgeglaubten Gatten, wenn sie nicht zufällig Juri (Shiwago) wieder auf die Beine bringen muss, oder sich schlussendlich in die Hände ihres früheren Peinigers begibt.

Die Unterwürfig- und Selbstlosigkeit der Frauen (insbesondere Juris Liebschaften, später gabs noch eine dritte Frau) und Juris Hang zum tatenlosen Niederschreiben der hoffnungslosen Situationen in Gedichten, dem Sinnieren von Sorgen über seine ferne Familie und sein drangloses Ergeben in Situationen (Entführung durch die Rebellen, Warten in der leeren Wohnung), hat mich aber dann doch mächtig enttäuscht. Mit diesem Bild konnte ich dann auch die anschließenden Gedichte kaum würdigen, geschweige denn verstehen. Sie waren mir zu entrückt.

Pasternaks Roman durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen. Er wusste um die Empfindlichkeiten seines Heimatstaates und seiner Weigerung, Kritik zuzulassen und versuchte vielleicht deshalb den Fokus auf die Liebesgeschichte zwischen Juri und Lara zu legen. Nun dürfte ich nicht darüber enttäuscht sein, kein umfassenderes Bild der Revolution und des Krieges bekommen zu haben. Die wenigen beschriebenen Szenen und das Lesen zwischen den Zeilen müssten in diesem Fall reichen und vielleicht, mit ein wenig Abstand, werden sie das eines Tages auch.