Rezension

Satirischer Krimi mit aktuellem Bezug

Samson und das gestohlene Herz -

Samson und das gestohlene Herz
von Andrej Kurkow

Bewertet mit 5 Sternen

REZENSION – Im Roman „Samson und das gestohlene Herz“, dem im Juli beim Diogenes Verlag erschienenen zweiten Band der satirischen Krimireihe des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (62), muss sich der im postrevolutionären Jahr 1920 in Kiew lebende Ermittler Samson mühsam mit einem Fall illegalen Fleischhandels herumplagen. Um Handlung und Protagonisten besser zu verstehen, empfiehlt es sich, zuvor den ersten Band „Samson und Nadjeschda“ (2022) gelesen zu haben. Denn er erklärt, weshalb dem jungen Mitarbeiter der sowjetischen Miliz das rechte Ohr abgeschlagen wurde, das er seitdem in einer Metalldose im Arbeitszimmer seines von marodierenden Rotarmisten ermordeten Vaters aufbewahrt und mit dessen Hilfe er Gespräche belauschen kann, ohne selbst vor Ort zu sein: „Die nackte Ohröffnung auf seiner Rechten nahm alle Geräusche der Welt in sich auf.“ Auch versteht man die Beziehung zwischen Samson und Nadjeschda, die in gemeinsamer Wohnung zu einem Liebespaar werden: „Sie sah ihn kritisch an, wie eine Ehefrau ihren Herumtreiber von Mann, aber sogleich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck – sie erinnerte sich offenbar daran, dass sie nicht seine Frau, sondern nur bei ihm einquartiert war.“

Noch immer ist Bürgerkrieg (1918 – 1922) in der Ukraine. Sowjetische Bolschewiken kämpfen gegen Konservative, Demokraten, gemäßigte Sozialisten, Nationalisten und Weiße Armee. Im Januar 1919 hatten die Bolschewiken die Stadt Kiew erobert. Samson war eher zufällig und ohne Ausbildung als Mitarbeiter der sowjetischen Miliz verpflichtet worden. Seinem künftigen Vorgesetzten Najden hatte schon dessen Fähigkeit genügt, gute Berichte zu formulieren.

Im neuen Band geht es um illegalen Handel mit Fleisch. Wegen akuten Mangels war das private Schlachten und der Verkauf von Fleisch vom Regime plötzlich verboten worden. Allerdings hatte man versäumt, die Einwohner von Kiew darüber zu informieren. „Es war eine Zeit der Unruhe, der Gefahr und des Hungers.“ Es herrschte politische Willkür, die auch Samson, sein Kollege Cholodnij und der Vorgesetzte Najden zu spüren bekommen, als ihnen der Tschekist Abjasow unerwartet vor die Nase gesetzt wird. Kaum haben Samson und Cholodnij mit ihren Ermittlungen im Fleisch-Schwarzhandel begonnen, wird Nadjeschda, Mitarbeiterin im Amt für Statistik, von Eisenbahnern gefangen genommen. Nun muss Samson auch noch seine Geliebte befreien.

Auch für diesen zweiten Band gilt: Es ist eine mit liebevoll charakterisierten Protagonisten besetzte und in fast märchenhaft-poetischer Sprache verfasste Mischung aus historischem Roman, Liebesgeschichte und Krimi. Allerdings ist der unspektakuläre Kriminalfall für den Autor lediglich Mittel zum Zweck: Andrej Kurkow blickt in seiner Krimireihe auf die Zeit der ersten sowjetischen Besetzung im Jahr 1920 zurück. Er schildert satirisch-ironisch die Alltagssituation der Normalbürger in den Wirren des Bürgerkriegs, in dessen Verlauf es für sie manchmal unübersichtlich war, wer sie gerade beherrschte. So rät der alte Fotograf, der Samson und Nadjeschda fotografieren soll, vom Foto in Uniform ab: „Sie merken doch selbst, wie oft bei uns hier die Machthaber wechseln. Von daher ist es besser, sich nicht in Kleidung ablichten zu lassen, die auf konkrete Machthaber hinweist. Wer weiß schon, wer als nächstes nach Kiew kommt?“

Der durchaus unterhaltsame Roman „Samson und das gestohlene Herz“ ist kein gewöhnlicher Krimi. Man denkt sofort an die unschuldigen Menschen in den heute von russischen Truppen erneut besetzten Ostprovinzen der Ukraine. „Überhaupt gab es zu wenig Salz, wie es überhaupt auch zu wenig Zucker gab. Das war die bittere Wahrheit dieser unruhigen Zeit, die man weder mit Salz noch mit Zucker schmackhaft machen konnte.“ Aber das Alltagsleben muss auch dort heute wie einst im Jahr 1920 irgendwie weitergehen, egal wer gerade regiert. So absurd diese Situation damals wie heute ist, steigert Andrej Kurkow in seinem Roman alles derart ins Skurrile, dass aus der Tragik des Geschehens schon wieder Komik wird. Auf den angekündigten dritten Band darf man gespannt sein.