Rezension

Schnörkellos mit Galgenhumor

Wir sind dann wohl die Angehörigen - Johann Scheerer

Wir sind dann wohl die Angehörigen
von Johann Scheerer

Bewertet mit 5 Sternen

Johann Scheerer, der Sohn des am 25. März 1996 entführten Jan Philipp Reemtsma, hat nun nach 22 Jahren einen autobiografischen Roman veröffentlicht, in dem er die 33 Tage, die die Entführung seines Vaters dauerte, aus der Sicht seines damaligen 13-jährigen Ichs beschreibt. Damit kommt der zweite (intime) Teil dieser schlimmen 4,5 Wochen an die Öffentlichkeit, der Teil, der sich in der Villa, die zur polizeilichen Einsatzzentrale umfunktioniert wurde, abgespielt hat. Johann Scheerer nimmt uns mit zurück in die Vergangenheit seiner Erinnerungen, in die Zeit, als er sich im Ausnahmezustand befand, in dem das Warten das einzige war, das vorherrschte und gleichzeitig unerträglich war.
 

 "Mein Blick auf die Welt hatte sich verändert. Nichts war mehr normal, alles stand im Zeichen einer potentiellen Gefahr. Alles war ein potentielles Hindernis." (eBook, Pos. 559)

In dieser Zeit steht seine Welt Kopf. Plötzlich gibt es keine Privatsphäre mehr. Fremde Menschen nisten sich in der Villa ein, versuchen verzerrte Stimmen und Telefonate zu verstehen, Briefe seines Vaters auf evtl. versteckte Hinweise zu entziffern und die Lösegeldforderungen vorzubereiten. Eine erzwungene Gemeinschaft hat sich gebildet, die vor lauter Frust und Angst ihre Anspannung in Humor, Lachflashs und Eierwerfen zu beherrschen versuchen. Doch gleichzeitig stellt sich das schlechte Gewissen ein.

"Wann würde es mir wieder möglich sein, ohne schlechtes Gewissen zu lachen?" (eBook, Pos. 84)

Johann Scheerer ist währen dieser 33 Tage von seiner Schulpflicht befreit. Ein kurzer Schulbesuch hatte ihm aufgezeigt, dass, solange die Entführung nicht vorbei ist, er sich dort nicht befreit aufhalten kann. 

"Der Schulbesuch hatte mich stärker irritiert, als ich es mir gewünscht hätte. Es war nicht die Rückkehr zur Normalität gewesen, sondern der Weg aus meiner neuen Normalität in eine surreale Situation. Dort war ich also auch falsch." (eBook, Pos. 2008)

Denn mit der Zeit merkte er, dass die Informationen, die er von seiner Mutter und den anderen erhält, stark gefiltert sind. Der Versuch einer Erklärung seiner Mutter, warum die zweite Geldübergabe nicht geklappt hat, ist mit so vielen Auslassungen gespickt, sodass es ihm nicht möglich war, der Erklärung zu folgen. 

Der Autor versucht seine Gefühle zu unterdrücken und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seinem Vater, den er schrecklich vermisste, nicht aufkeimen zu lassen. Die Entführung könnte seiner Vorstellung nach nicht glücklich enden. Bekämen die Entführer das Geld, würden sie den Zeugen wahrscheinlich töten. 

Obwohl ich als Leserin den Ausgang dieser Entführung kannte, fieberte ich währen der beiden von der Polizei verpatzen Geldübergaben mit. Es war ein schreckliches Gefühl zu wissen, dass diese Entführung insgesamt so lange dauerte, weil die Polizei Fehler gemacht hatte. Doch Johann Scheerer erwähnt das fast wie beiläufig. Er betreibt keine Schuldzuweisung und zeigt auf, das er als 13-jähriger großes Vertrauen in die Polizei hatte. Dennoch wurde heimlich eine dritte Geldübergabe hinter dem Rücken der Polizei vorbereitet, die dann Gott sei Dank auch geglückt war. Der Autor erfuhr von der Freilassung seines Vaters und dass er sich auf dem Weg ins Bundeswehrkrankenhaus befand und er ihn dort treffen würde. Mit diesem Satz hatte auch mein Gefühlschaos endlich ein Ende.

Befreit, froh und dennoch nicht im alten Leben wieder zurück. Keiner. Sehr eindrucksvoll beschreibt Johann Scheerer, wie diese 33 Tage seine Welt und seine Familie zerstört hat. 

"Ich erinnere mich währenddessen an unsere Formulierung aus meinen Kindertagen, als wir kuschelnd im Bett lagen. >>Zwischen uns passt keine Briefmarke.<< Nun habe ich das Gefühl, dass zwischen uns Welten Platz hätten. Zwei Galaxien, die aufeinanderprallen." (eBook, Pos. 2482)

Fazit:
Gerne bin ich den Gedanken, den Gefühlen und den Erinnerungen des Autors gefolgt. Gelungen zeigt er auf, wie so ein einschneidendes Erlebnis nie mehr wieder aus dem eigenen Leben verschwinden wird. Es rückt zwar in den Hintergrund und dennoch holen harmlose Wortspielereien wie ">>Darf ich Ihnen den Johann mal kurz für zwei Minuten entühren?<<" (eBook, Pos.2636) alles wieder nach vorne.
Ein sehr lesenswertes Buch eines Betroffenen, das Schlimmes aufzeigt, die emotionale Seite jedoch im Rahmen hält, sich auf die Fakten fokusiert und die Sicht eines jungen Menschen aufzeigt und wie dieser mit den ganzen plötzlichen Veränderungen umgegangen ist. Schnörkellos und mit Galgenhumor erzählt.