Rezension

Schönheit kann tödlich sein

Let Me Call You Sweetheart -

Let Me Call You Sweetheart
von Mary Higgins Clark

Bewertet mit 5 Sternen

Mary Higgins Clarks vielleicht bester Thriller mit clever ausgedachter Handlung, verblüffendem Ende und überzeugender Protagonistin

Mehr als vierzig Jahre lang konnten sich ihre treuen Leser darauf verlassen, dass die amerikanische Autorin psychologischer Spannungsromane Mary Higgins Clark zuverlässig mindestens einen neuen Thriller pro Jahr herausgeben würde. Die Vorfreude war immer groß – und es ist ein eigenartiges Gefühl zu wissen, dass dem nun durch den Tod der Schriftstellerin im Januar 2020, deren Stammverlag Simon & Schuster, dem sie 45 Jahre lang die Treue gehalten hatte, ihr besondere Liebenswürdigkeit und Menschlichkeit und stets gut gelaunte Bereitschaft zur Zusammenarbeit bescheinigte, ein Ende gesetzt ist. Sie wird fehlen, doch zum Glück hat sie eine stattliche Anzahl von Romanen geschrieben, deren Qualität auch einem Wieder- und Wiederlesen standhält!

„Let me Call you Sweetheart“ (deutscher Titel „Ein Gesicht so schön und kalt“) erschien im Jahre 1995, gehört also in ein Jahrzehnt, in dem sich die Autorin von Buch zu Buch steigerte. Die Neunziger Jahre waren eindeutig ihre kreativste Schaffensperiode; die New Yorkerin schien geradezu vor Ideen überzusprudeln, Ideen, die sie als unermüdliche, stets fleißige und aufmerksame Zeitungsleserin der täglichen Lektüre entnahm und bei denen sie Wert darauf legte, dass es sich, wenn eine dieser Ideen Gestalt angenommen hatte, dabei um aktuelle Themen beziehungsweise solche handelte, die ihre in der Mehrzahl weiblichen Leser interessierten.

In ihrem elften Roman baute die Amerikanerin mit den von ihr gerne betonten irischen Wurzeln ihre wie gewohnt schnelle, spannende und immer wieder für Überraschungen sorgende Handlung um das Thema Schönheitschirurgie oder, wie man es inzwischen nennt, Plastische Chirurgie auf, von dem sie sicher sein konnte, damit eine große Leserinnenschar anzusprechen. Schönheit oder das, was man darunter (miss)versteht, ist nun einmal für viele, fälschlicherweise, so möchte ich behaupten, der Schlüssel zur Glückseligkeit!

Selten aber gab sich die wendige und blitzgescheite Erfolgsautorin mit nur einem Thema zufrieden, was natürlich auch für den hier zu besprechenden Thriller gilt: wieder einmal – und man muss mutmaßen, dass dies ihr Herzenskind war – spielt das amerikanische Justizsystem eine wichtige Rolle, verlagert sie das Geschehen immer wieder parallel zur Haupthandlung in den Gerichtssaal, lässt sie ihre Protagonistin passenderweise eine Staatsanwältin mit Ambitionen auf das begehrte Richteramt, ein reines Politikum im Land der Freien, sein.

Besagte Protagonistin, Kerry McGrath, ist eine von Mary Higgins Clarks bemerkenswertesten Hauptfiguren, jemand, auf deren Seite man fast durchgehend sein kann. Sie weist nicht die Brüche und teilweise unverständlichen Handlungsweisen einiger anderer Frauenfiguren auf, die die Autorin ins Zentrum eines jeden ihrer elegant und klug geschriebenen Thriller gestellt hat. Kerry McGrath ist geradlinig, ist nachvollziehbar, authentisch, rational und kontrolliert – die stärkste und überzeugendste der starken und unabhängigen Frauen aus der gehobenen Gesellschaft, in der Regel an der amerikanischen Ostküste ansässig, die man in allen Higgins Clark Romanen antrifft. Und wie alle Protagonistinnen im Werk der „Queen of Suspense“ gerät auch Kerry durch Zufall in die Art von Schwierigkeiten, die sich niemand wünschen kann und die wie eine Lawine über sie einstürzen und sie und ihre zehnjährige Tochter Robin in einem gewohnt grandiosen Finale in höchste Lebensgefahr bringen.

Die ewigen Nörgler unter den sich berufen fühlenden Rezensenten mögen kritisch bemerken, dass Mary Higgins Clarks Thriller immer nach einem bestimmten Schema ablaufen, dass die Handlung, nebst Ausgang der Geschichte, viel zu vorhersehbar ist. Dem wäre zu entgegnen, dass jeder Schriftsteller seine ganz eigene Handschrift hat, die für einen willkommenen Wiedererkennungseffekt sorgen oder sich mit der Zeit abnutzen kann. Bei der renommierten Spannungsautorin Higgins Clark trifft sicherlich ersteres zu, und ausschließlich, denn sie bringt stets auch neue Facetten ein, selten verläuft etwas so, wie es der Leser erwartet. Es gibt eine Menge Stolpersteine und, gerade in vorliegender Geschichte, komplette Kehrtwendungen oder nicht vorhersehbare Entwicklungen, die die Spannung, typisch für Higgins Clark, kontinuierlich anwachsen lassen und ihre Werke zu echten Pageturnern machen, denkbar ungeeignet für langsame und bedächtige Leser, die sich gerne viel Zeit nehmen für ihre Lektüre.

Doch ist es keine oberflächliche Spannung, die die Autorin kreiert, dazu sind ihre Thriller zu tiefgründig, zu detailreich, und zu sorgfältig sind ihre Personencharakterisierungen, die sie im Übrigen hervorragend beherrscht! Da sie, eines ihrer Erkennungsmerkmale, jedes ihrer sehr vielen, teilweise sehr kurzen Kapitel mit einem Spannungsmoment, einem sogenannten Cliffhanger also, enden lässt, fühlt man sich gezwungen, weiterzulesen und immer weiter bis zum selbstverständlich - und natürlich auch hier - verblüffenden Ende, das schließlich die Wahrheit ans Tageslicht bringt über den elf Jahre zurückliegenden Mord an der schönen Suzanne Reardon und die Rolle, die ihr verurteilter Ehemann Skip, ihr Vater, der Schönheitschirurg Smith, der Kunst- und Juwelendieb Arnott, der vor Gericht stehende hoch kriminelle Steuerhinterzieher Weeks, der ausgerechnet von Kerrys opportunistischen Ex-Mann Bob verteidigt wird, und noch eine Reihe anderer sympathischer oder weniger sympathscher Charaktere, dabei gespielt haben.

Summa summarum: „Let me Call you Sweetheart“ ist ein stilistisch, dramaturgisch und inhaltlich hervorragender Thriller, vielleicht gar der beste der „Queen of Suspense“, die ihr Handwerk so perfekt verstand wie kaum eine andere vor oder nach ihr und der ein Muss ist für jeden Mary Higgins Clark Fan!