Rezension

Schreiben statt leben

Seht mich an -

Seht mich an
von Anita Brookner

Bewertet mit 4 Sternen

Der dritte Roman von Anita Brookner, zuerst im Jahr 1983 erschienen, erzählt von Frances Hinton, die als Archivarin in einer wissenschaftlichen Bibliothek arbeitet und komfortabel in einer ererbten Wohnung lebt. Wohlerzogen und introvertiert, steht sie stets am Rand und wünscht sich nichts sehnlicher, als mittendrin zu sein. Wie viele einsame Menschen ist sie eine scharfsichtige Beobachterin ihrer Umgebung. Erkenntnisse und Analysen hält sie in einem Tagebuch fest, aus dem irgendwann ein Roman entstehen soll. Ihr Schreiben hat das Ziel, sie sichtbar zu machen: „Es ist die Buße dafür, nicht glücklich zu sein, ein Versuch, die anderen zu erreichen und sich so ihre Liebe zu erwerben. […] Ich gäbe meine gesamte Produktion von Worten hin, […] wenn ich […] sagen dürfte: Das tut mir weh – das mag ich nicht – das will ich haben. Oder auch nur: Seht mich an!“

Brookner umgibt Frances mit Figuren, die die von ihr so gefürchtete Zukunft bebildern: Miss Halloran, die sich in den Alkohol geflüchtet hat, Dr. Simek, der vereinsamte Pensionsbewohner, Miss Morpeth, ihre Vorgängerin im Amt, die verbittert und vergessen auf den Tod wartet. Dagegen ist sie fasziniert von einem der Wissenschaftler, der die Bibliothek frequentiert, Nick Fraser, und seiner attraktiven Frau Alix. Beide erscheinen ihr als das goldene Ideal eines Paares – selbstsicher, weltgewandt und ungehemmt hedonistisch. Es gelingt ihr, in den Kreis des Paares aufgenommen zu werden, aber das hat einen Preis, wie sie bald feststellt.

Denn die Frasers sind Vampire, die die Lebensdramen ihrer Bekannten zu ihrer Unterhaltung missbrauchen. Exemplarisch für Brookners großartige Sprache ist, wie sie die verschlingende Gier der privilegierten Alix auch im Äußeren beschreibt. „Der Mund … war das dominierende Merkmal ihres Gesichts: die langen, schmalen Lippen, die makellosen Zähne und die hohe, weit tragende Stimme.“ Es sind ihre „Raubtierzähne“, die den Eindruck aufkommen lassen, dass Frances sich vor ihren neuen Freunden besser in Acht nehmen sollte.

Nach einer herzzerreißenden Beinah-Liebesgeschichte beschließt sie, sich in ihrer Einsamkeit einzurichten und das Schreiben zu ihrer Profession zu machen – ein befremdlicher Beschluss für eine 25jährige. Tröstlich allein der Gedanke, dass nun Frances der Vampir sein wird, der das Leben ihrer „Freunde“ als Material verwendet - schreiben statt leben.

Brookners klare, präzise Sprache legt wie mit dem Skalpell immer neue Schichten der Isolation und Vereinzelung frei.  Ihre Lektüre hat mir ein ständiges Wechselbad beschert: Bewunderung für den ruhigen, unprätentiösen Stil der Autorin, ihre brillanten Gedanken und Überlegungen, und Irritation und Ungeduld mit dem Verharren ihrer Heldin in Umständen, die sie, objektiv betrachtet, leicht ändern könnte. Das ist über weite Strecken quälend zu lesen. Aber gerade in ihrer Widersprüchlichkeit und fatalen Bedürftigkeit ist Brookner mit Frances ein ungemein glaubwürdiger Charakter gelungen, mit dem ich mitgefühlt und gehofft habe bis zum Schluss.

Bei aller emotionalen Intensität liest der Roman sich wie aus der Zeit gefallen. Niemals hat man das Gefühl, ein Werk aus der Neuzeit vor sich zu haben. Die Teile, die sich um die Frasers drehen, erinnern an die Buchanans aus „Der große Gatsby“ und schaffen eine Atmosphäre wie in den 30er Jahren; die Protagonistin hingegen mit ihrer keuschen Bravheit scheint den 50ern anzugehören. Frances, die „nicht unbedingt der feministischen Guerillabewegung“ angehört, passt so gar nicht in die 80er Jahre mit ihren gesellschaftlichen Umbrüchen. Daher habe ich, trotz des universalen Themas, den Roman auch keineswegs als zeitlos empfunden. 

Natürlich hat es zu allen Zeiten Menschen gegeben, die von den Zeitströmungen unberührt blieben. Das gilt, so ist zu vermuten, nicht nur für ihre Figuren, sondern eben auch für Brookner selbst. Dennoch, selten habe ich einen Text gelesen, der Einsamkeit in all ihren Facetten so einfühlsam und plastisch beschrieben hat.