Rezension

Schwierige Schwester-Beziehung

Wer morgens lacht - Mirjam Pressler

Wer morgens lacht
von Mirjam Pressler

Bewertet mit 5 Sternen

Marie und Anne: Marie ist schön, lebenslustig, fordernd und "bunt" - im Vergleich zu ihr kommt sich die drei Jahre jüngere Anne grau und unscheinbar vor. Brav ist sie und angepasst, fleißig und hilfsbereit, aber sie fühlt sich nicht beachtet und ungeliebt. Die Beziehung zu Marie wird immer mehr von Neid und Eifersucht bestimmt; als Zehnjährige will Anne ihre ältere Schwester mit einer Voodoo-Puppe verzaubern, doch sie erschrickt vor ihren eigenen überstarken Gefühlen, zumal Marie schwer erkrankt. Kurz vor ihrer Volljährigkeit verschwindet Marie spurlos. Doch aus Annes Leben ist sie jahrelang nicht wegzudenken: Ständig ist sie in ihren Gedanken präsent, in ihrer Vorstellung erscheint regelmäßig Marie mit ihren spöttischen Kommentaren. Das muss aufhören! Und so entschließt sich die erwachsene Anne, ihre Erinnerungen an Marie und an die damaligen Geschehnisse in der Familie aufzuschreiben, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie endlich zu verarbeiten. Dabei ist ihr sehr bewusst, dass Erinnerung nicht objektiv sein kann, dass jeder Beteiligte ein anderes Bild der gleichen Situation hat und dass auch sie selbst blinde Flecken beim Blick in ihre Vergangenheit hat. Mit Hilfe des Schreibens und durch Gespräche mit ihrer Freundin tastet sich Anne langsam an verschüttete Aspekte ihrer Kindheit heran; ein gemeinsamer Besuch bei ihren Eltern bringt wohl gehütete Familiengeheimnisse ans Licht. Und wenn Anne zum Schluss weint, kann sie endlich die lange zurückgehaltene Trauer um ihre Schwester und gleichzeitig ihre Schuldgefühle zulassen.

Anne interessiert sich als Biologie-Studentin besonders über die symbiotischen und parasitären Beziehungen der Pilze; das kann als Symbol für die schwierige Beziehung zwischen ihr und ihrer Schwester gedeutet werden: Äußerlich sind sie sich sehr ähnlich, doch ihre Charaktere sind sehr unterschiedlich; sie haben in ihrer Kindheit aneinander Halt gefunden und viele Erlebnisse geteilt, bis sie sich später so auseinander entwickelten, dass die Gemeinsamkeiten verloren gingen. In Annes Erinnerung waren nur noch die negativen Anteile vorhanden, und sie kann erst zum Schluss auch die positiven Seiten wieder sehen und Verständnis für ihre Schwester entwickeln.

Mirjam Presslers Beschreibung von Annes Gefühls- und Gedankenwelt ist empathisch und dicht; feinfühlig deutet sie das Beziehungsgeflecht an. Der Verlag empfiehlt das Buch ab 14 Jahren; mit Gewinn lesen werden es wohl nur Jugendliche, die sich schon stark mit ihren Gefühlen auseinandergesetzt und einige Reife erlangt haben. Das Buch spricht auch ältere Jugendliche und Erwachsene an. Ich fühlte mich persönlich sehr berührt, da es stark an die Beziehung zu meiner Schwester rührte. Deshalb von mir: Höchstbewertung.