Rezension

Sechs mal Leben. Sechs mal Staatsmacht. Sechs mal Zerstörung.

Das grüne Zelt - Ljudmila Ulitzkaja

Das grüne Zelt
von Ljudmila Ulitzkaja

Bewertet mit 4 Sternen

Kurzmeinung: Romane über Russland sind wahrscheinlich immer deprimierend.

Sechs Menschen mit jeweils deren Angehörigen und Freunden begleitet Ljudmila Ulitzkaja durch ihr Leben. Und wir mit ihr. Es sind jeweils drei Frauen und jeweils drei Männer, die miteinander befreundet sind. Alle leben in Moskau und/oder Umgebung und jeder macht seine speziellen Erfahrungen mit Russland, der staatlichen Willkür und mit sich. Von den Männern ist einer Musiker, einer Sprachlehrer, einer ist gleich von Anfang an dazu bestimmt, Revolutionär zu sein. Von den Frauen ist eine Hochleistungssportlerin, sie scheitert an ihrem Körper, heiratet einen KGB-Angehörigen und wird zur Gefahr für die anderen, eine ist Wissenschaftlerin und konvertiert zum Christentum und eine andere, die Hauptperson, Olga, Tochter einer staatstreuen Journalistin und einem Exoffizier, sie kommt aus priviligiertem Haus, Literatin und Philosophin, darf ihr Studium nicht abschließen, weil sie denunziert worden ist. Sie heiratet den Revolutionär, bis er ihr abhandenkommt und sie an Krebs erkrankt.
Ljudmila Ulitzkaja sagt über die russische Seele, sie sei „zärtlich und mutig, irrational und leidenschaftlich, mit einem Schuss erhabenen Wahnsinns und opferbereiter Grausamkeit“. Sie schildert das Schicksal der Intelligenzja in Russland. Sie schreibt damit über diejenigen russischen Menschen, die (noch) voller Ideale stecken und voller Optimismus die Welt retten möchten, sich selbst und natürlich Russland und die allesamt an der Realität einer Diktatur scheitern müssen. Allen ist eigen, dass sie ihr Heimatland lieben.
Zeitlich setzt der Roman bereits mit dem Ersten Weltkrieg ein, in dem der damals blutjunge Viktor und später der Lehrer, unter tragischen Umständen einen Arm verliert und ein Trauma erleidet, weil er als Anführer eines kleinen Trupps, den Tod einer seiner Leute zu verantworten hat. Der Lehrer ist eine prägende Figur für die drei Bubenfreunde. Mit Stalins Tod, 1953 gibt es eine Zäsur im Leben in Russland. Und der ganzen Welt. 

Der Kommentar: 
Da Ulitzkaja auch auf die Vorgeschichte der Familien unserer sechs Hauptdarsteller eingeht, bewegt sie sich chronologisch gesehen organisch vor und zurück in der Zeit, vor und zurück. Man verirrt sich nicht, und es fügt sich ein Detail ans andere, es ergeben sich zahlreiche Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Figuren, die sich schließlich allesamt kennenlernen. Nein, man verirrt sich nicht, dazu ist die Autorin zu geschickt, zu sehr bewandert in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, aber es wird voluminös. 

Vielleicht ist es das, was mich letztlich nicht zu einer wahrhaften Begeisterung für den Roman vordringen ließ. Er hat eigentlich alles, was ein großer Roman braucht, viel Schicksal, viel verzweifelte Liebe zu Russland, viel Ohnmacht, viel Desillusion, viel Erzählkunst und viel Wodka, viel Politik, viel Obrigkeit. Willkür. Leben. Verzweiflung. Komplexität. Es sind nicht immer die großen Dinge, an denen die Menschen scheitern. Menschen treffen auch falsche Entscheidungen, Micha zum Beispiel, der nicht emigriert als der KGB es ihm anbietet. Micha, der seine Wissbegierde und seine Illusionen erst zum Schluss verliert: „Seit vielen Jahren hatte Micha den Marxismus studiert, hatte herauszufinden versucht, warum die wunderbare Idee der sozialen Gerechtigkeit so verfälscht umgesetzt wurde, doch nun sah er es klar und nüchtern: Das Ganze war eine gewaltige Lüge, voller Zynismus, eine schamlose Manipulation von Menschen, denen die Angst, die das ganze Land in eine dunkle Wolke hüllte, ihr menschliches Antlitz und ihre Würde raubte. Diese Wolke konnte man als Stalinismus bezeichnen, aber Micha ahnte bereits, dass der Stalinismus nur ein Sonderfall eines gewaltigen, weltweiten, zeitlosen Übels war – des Despotismus“. Gingen diese Zeilen wirklich durch die Zensur? 

 Autobiografisches spiegelt sich durchaus wider in diesem Roman. Wikipedia schreibt: „Ljudmila Ulizkaja wuchs ab Ende 1943 in Moskau in einer jüdischen Familie auf. (Einige der Figuren sind Juden). Sie absolvierte ein Biologiestudium arbeitete ab 1967 als Genetikerin in Moskau, wurde aber wegen der illegalen Abschrift und Verbreitung von Samisdat-Literatur entlassen“ und „2023 wurden russische Buchhandlungen und Bibliotheken angewiesen, die Werke Ulizkajas aus dem Angebot zu nehmen“. Die Autorin hat sich dezidiert gegen „Putins Krieg“ ausgesprochen und ist inzwischen nach Berlin emigriert. Ulitzkaja ist durchaus eine Anwärterin auf den Literaturnobelpreis - für ihr Lebenswerk gehört sie endlich geehrt.

Fazit: Deprimierend, aber erhellend. Voluminös, aber hervorragend komponiert. Vielleicht ist der Roman stilistisch etwas schwergängig. Die russischen Namen mit ihren vielen Vor- und Zunamen erschweren den Lesefluss. 

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur.
Verlag: dtv, 3. Aufl. 2017,
Erstveröffentlichung 2014, dtv. 2010 Moskau