Rezension

Sehr gelungene Hommage an eine singuläre Frau und starke Persönlichkeit

Am Horizont der Meere - Unda Hörner

Am Horizont der Meere
von Unda Hörner

Die surrealistische Göttin

Sie war seine nie versiegende Inspiration, seine zweite Seelenhälfte und seine abgöttische große Liebe: Gala, die Frau und Muse des Surrealisten-Genies Salvador Dalí, die ihren eigenen Mythos schuf und sich mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit selbst inszenierte. Dalí ließ sie in all ihrem Glanz scheinen, verewigte sie in seiner Kunst und räumte ihr einen ebenbürtigen Platz an seiner Seite ein. Damit stand er im krassen Gegensatz zu Künstlergrößen wie Pablo Picasso, der niemand anderen neben sich duldete und dessen ebenso talentierte Frauen - wenn überhaupt - nur schmückendes Beiwerk waren. 

In ihrem neuen Roman Am Horizont der Meere: Gala Dalí lässt Unda Hörner, die ihre Leserschaft schon mit Kafka und Felice begeisterte, das bewegte Leben dieser einzigartigen Frau Revue passieren, die gleichermaßen faszinierte wie polarisierte. Hörner geht zurück zu Galas Anfängen, als die gebürtige Russin noch Helena Diakonova hieß, und rekonstruiert in dieser detailliert recherchierten und exzellent geschriebenen Geschichte ihren Weg von der fragilen, tuberkulosekranken jungen Frau bis hin zur strahlenden, künstlerischen Ideengeberin, cleveren Managerin und zum favorisierten Modell ihres exzentrischen Maler-Gatten Dalí, an dessen Seite sie endlich als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen wurde. 

Junge Liebe

Als die 18-jährige Helena, die sich Gala nennt, 1912 bei einem Sanatoriumsaufenthalt in Davos den jungen Paul Éluard kennenlernt, ist sie fasziniert. Paul ist der Sohn eines erfolgreichen Pariser Immobilienmaklers, doch er hat wenig Lust, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Er träumt davon, ein großer Dichter zu werden und besitzt auch ein außergewöhnliches Gespür für Sprachschönheit, was er beim Rezitieren seiner Lieblingsverse zum Besten gibt. Gala fühlt sich sofort zu ihm hingezogen, lässt sich mitreißen von seinem künstlerischen Genie und verfasst mit ihm gemeinsam avantgardistische Gedichte. Heimlich verloben sich die beiden Liebenden, obwohl ihre Familien wenig begeistert von ihrer Wahl sind.

Bourgeoise Langeweile

Auch der beginnende Krieg 1914 kann dem Paar und ihrer Liebe auf Distanz nichts anhaben. Schließlich ladet Pauls Familie Gala nach Paris ein, und sie spürt zum ersten Mal einen Hauch von großer Welt. Doch schnell langweilt sie sich in ihrer neuen bourgeoisen Umgebung. Gala ist schon früh klar, dass sie entgegen der damaligen Rollenverteilung keine geborene Hausfrau ist und auch niemals werden will: Sie hasst die häuslichen Pflichten und kann mit den Ratschlägen ihrer zukünftigen Schwiegermutter nicht viel anfangen.

Als Paul und Gala schließlich inmitten der Kriegswirren heiraten, erhofft sie sich Unabhängigkeit. Doch ihre Schwangerschaft macht zunächst all ihre Pläne zunichte. Als Töchterchen Cécile geboren wird, stellen sich bei Gala keinerlei Muttergefühle ein. Sie will ihr Leben genießen, sich weiterbilden und schließt sich lieber Paul und seinen neuen Freunden der Dadaismus-Bewegung um den charismatischen André Breton an. Die jungen Männer sprühen vor Kreativität und innovativen Gedanken, doch auch hier fühlt sich Gala nicht wirklich zugehörig, denn als Frau bleibt sie "unsichtbar".

Desillusionierende Ménage à trois

Gala beginnt - nach Aufforderung von Paul - eine Affäre mit dem deutschen Maler Max Ernst, Mitbegründer der Kölner Dada-Gruppe. Da Pauls Auslegung des avantgardistischen Dada-Lebenskonzeptes auch die freie Liebe beinhaltet, ist er fasziniert von dieser Ménage à trois: Er bewundert Max Ernst sehr und fühlt sich durch dessen Interesse an seiner Frau geschmeichelt. Dies gilt jedoch nicht für Ernsts Frau, Lou, die Gala für eine eitle und selbstgefällige Egomanin hält, die ständig im Mittelpunkt stehen will und der die Gefühle anderer völlig egal sind. Aber auch Gala kann diesem neuen Arrangement nicht wirklich etwas abgewinnen und fühlt sich gegen ihren Willen "herumgereicht", obwohl sie Max als Mann faszinierend findet - nicht zuletzt, weil er sie des Öfteren zum Bestandteil seiner Kunst macht.

Der Reiz der für die Öffentlichkeit skandalösen Dreiecksbeziehung ist schnell verflogen. Gala erkennt die Verlogenheit des als modernistisch angepriesenen Lebensmodells, das in ihren Augen lediglich als Deckmantel zum Ausleben männlicher Fantasien dient. Und so hängt auch ihre Ehe mit Paul nur noch an einem seidenen Faden. Beide flüchten sich in Affären, beschließen aber nach einer Aussprache, es nochmals miteinander zu versuchen.

Schicksalhafte Begegnung in Cadaqués

Ihr Weg führt sie ins spanische Cadaqués, wo sie einen jungen, äußerst talentierten Maler treffen, dessen Exzentrik selbst für Gala gewöhnungsbedüftig ist: Salvador Dalí, charismatisch und scheinbar ziemlich verrückt, provoziert mit seinen Bildern, die jedes Tabu brechen. Er ist Surrealist im wahrsten Sinne des Wortes und beeindruckt die zehn Jahre ältere Gala mit seiner Authentizität und seinem wahnwitzigen Charme. Was als Affäre beginnt, wird zur großen Liebe, gegen die selbst Paul nichts ausrichten kann. Dalí macht Gala zu seiner Göttin, sie macht ihn zu einem der reichsten - und, wie man sagt, glücklichsten - Maler seiner Ära. Und schließlich wird sie durch seine maßlose Liebe und madonnenähnliche Verehrung das, was sie sich stets gewünscht hat: Sie wird als eigenständiges kreatives Individuum an seiner Seite sichtbar.

Brillante Hommage an eine singuläre Frau und starke Persönlichkeit

Unda Hörners Roman ist eine sehr gelungene Hommage an Gala Dalí, eine singuläre, beeindruckende Frau, die entgegen dem damaligen weiblichen Rollenverständnis unbeirrt ihren eigenen Weg ging, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und die es wagte, aus dem Schatten ihres berühmten Ehemanns zu treten und sich selbst als starke Persönlichkeit mit einem untrüglichen Kunst- und Geschäftssinn zu behaupten. Nicht zuletzt Galas Talent, sich immer wieder neu zu erfinden, machte dabei ihren ganz besonderen Reiz aus und verstärkte noch ihre Ausstrahlung, die - gepaart mit ihrem Eigensinn - eine aparte Mischung ergab.

Doch die Autorin zeigt auch Galas Negativseite - ihren Wunsch, immer und überall im Fokus zu stehen, sich selbst und ihre Bedürfnisse an die erste Stelle zu setzen, ohne dabei an ihre Familie - und hier vor allem an ihre Tochter - zu denken. Eine äußerst ungewöhnliche, beinahe maskuline Einstellung für die damalige Zeit, die man einer Frau zum Vorwurf machte, während sie bei einem Mann kritiklos akzeptiert wurde.

Darüber hinaus spiegelt die Autorin sehr gekonnt die inspirierende Aufbruchstimmung um die charismatischen Hauptakteure der revolutionären Kunstströmungen des Dadaismus und Surrealismus wider und lässt viele interessante diesbezügliche Informationen in ihre Geschichte mit einfließen.

Alles in allem ist Hörners einzigartiges Porträt von Gala Dalí für mich eines der Highlights dieses Jahres. Der Roman ist derart brillant geschrieben, dass man fast vergisst, dass es sich hierbei um - glänzend recherchierte - Fiktion handelt. Daher mein Fazit: Dieses Buch muss man einfach gelesen haben. Sehr empfehlenswert!