Rezension

Sind männliche Leseratten vom Aussterben bedroht?

Warum Jungen nicht mehr lesen - Katrin Müller-Walde

Warum Jungen nicht mehr lesen
von Katrin Müller-Walde

Bewertet mit 5 Sternen

Eltern und Lehrer beklagen seit langem die Lese-Unlust von Jungen. Wie diese männliche Abneigung gegen das Lesen (speziell das Lesen in der Schule) zum Scheitern im deutschen Schulsystem führt, haben uns die Ergebnisse der PISA-Studie eindringlich vor Augen geführt. Provokant, praxisnah und unkonventionell stellt Müller-Walde die Situation dar. In ihr sorgfältig recherchiertes, fesselnd zu lesendes Sachbuch bringt die ZDF-Journalistin eigene Erfahrungen als Mutter eines zeitweiligen Nicht-Lesers ein. Sie listet Erste-Hilfe-Tipps von Experten auf und stellt eine Auswahl von 50 Büchern vor, die im Laufe einer Befragung von 2000 Schülern Jungen anderen Jungen empfohlen haben.

Mädchen lesen gern, sie lesen viel und ihnen bedeutet das Lesen sehr viel. Jungen lernen spätestens im Kindergarten, dass Frauen, Kindererziehung und das Vorlesen wenig Ansehen genießen. Da zur Vorstellung von Männlichkeit die Abgrenzung gehört (ich bin nicht schwul, ich bin kein Looser...) verleugnen Jungen von nun an das Lesen, um nicht von anderen ausgelacht zu werden. Die Welt der Männer wird ab jetzt von Pokemon, der Spielkonsole und später von LAN-Partys repräsentiert. Lese-Kompetenz-Defizite von Jungen in Deutschland gehen mit entsprechenden Defiziten an Einfühlungsvermögen einher und lassen daran zweifeln, ob diese Jugendlichen je in dem Umfang lesen, schreiben, denken und reflektieren können, den eine Demokratie von ihren Bürgern voraussetzt. Müller-Walde gelangt zu dem ermutigenden Ergebnis, dass Jungen lesen wollen. Wir müssen sie nur während ihrer persönlichen Leselust-Lernphase ansprechen und ihnen die richtigen Texte in die Hand geben. An beidem, an der persönlichen Beziehung zu lesenden Vorbildern und der Auswahl der richtigen Texte mangelt es in Deutschland. Vom so genannten "guten Buch" lässt die Autorin lieber gleich die Finger; denn zu oft hat sie erfahren, dass vorschnell empfohlene "gute" Bücher gerade die Gruppe der 13- bis 17-jährigen enttäuschten und sie zu Lesemuffeln machten. Junge Buchhändlerinnen, Erzieherinnen und Lehrerinnen empfehlen die Bücher, die ihnen selbst gefallen und übersehen leicht, dass männliche Leser eine völlig andere Vorstellung von einem empfehlenswerten Buch haben. Die Empfehlung an den Leser-Interessen vorbei können wir im Feuilleton und auf den Kinderbuchseiten der Tageszeitungen verfolgen. Dort werden hauptsächlich Bilderbücher, Bücher für Lese-Anfänger und Mädchenbücher empfohlen, weil man "bei Büchern für kleine Kinder nicht viel falsch machen kann", vermutet Müller-Walde. Fantasy, Science Fiction, Sachbücher oder Buchtitel, die männliche Leser interessieren, sind dort selten zu finden. Müller-Walde konstatiert, dass das "gute Buch" beim jungen Leser durchfällt, während das "coole Buch", das tatsächlich gelesen wird und über das Mann sich mit seiner Clique unterhalten kann, Eltern und Lehrern häufig ein Buch mit sieben Siegeln bleibt.

Wird ein Jugendlicher als Lesemuffel enttarnt, ist es für Hilfs-Maßnahmen oft zu spät. Da ein 12-jähriger Nicht-Leser vermutlich ein Dreijähriger war, dem keine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen wurde, lastet die Autorin die zunehmende Lese-Unlust dem mangelnden Vorbild der Erwachsenen an. Wer sein Kind zum Lesen motivieren will und von der damit verbundenen Werte-Erziehung profitieren möchte, dem steht ein ungewohnt anstrengendes Leben mit wenig Fernsehen, PC und Spielkonsolen-Gebrauch bevor. Beim guten Beispiel nimmt die Autorin Väter, Großväter und Lehrer in die Pflicht. Sie kann sich zum Beispiel gut vorstellen, Vertretungsstunden in der Schule statt mit Video-Filmen mit Vorlesen oder Selbstlesen zu überbrücken. Die Begriffe Leseknick und Lesefenster sollten sich alle Eltern einrahmen. Nach dem ersten Einbruch der Lese-Lust bei allen Lese-Anfängern zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr, folgt ein zweiter, geschlechtsspezifischer Leseknick nach dem 13. Lebensjahr. Er lässt bei Jungen die Lese-Aktivität drei Mal stärker einbrechen als bei Mädchen. Nach dem 15. Lebensjahr schließe sich das Fenster endgültig, in dem sich die Fähigkeit zur Verarbeitung von Sprache entwickeln kann.

Wie bei vielen negativen Trends sind die USA auch bei Fakten und Daten zum männlichen Nicht-Lesen Vorreiter. Dort gibt es aber auch eine gewachsene, sehr erfolgreiche Zusammenarbeit in der Lese-Förderung zwischen Eltern, Lehrern und Bibliothekaren. Amerikanische Literacy-Experten erwarten eine weiblichere, ältere, gebildetere und mobilere Zukunft. Sie haben für Lese-Muffel, die noch nicht darauf vorbereitet sind, dass routinierte Leser bessere Chancen bei Frauen haben, ein Erste-Hilfe-Programm bereit, das Müller-Walde deutschen Verhältnissen angepasst hat. Alle drei Leseerziehungs-Experten, die die Autorin in den USA und Australien befragte, sind übrigens Bibliothekare.

Im Anhang definiert die Autorin, was ein gutes Jungenbuch ist und klärt, was Jungen im Unterschied zu Mädchen witzig oder spannend finden. Dieses - sehr humorvoll formulierte - Kapitel hat mir die Augen geöffnet, warum ich bisher Bücher "für Wenig-Leser in großer Schrift und einfachen Sätzen" oft so sterbenslangweilig fand. Müller-Waldes gut sortierte Positiv-Liste älterer Titel bietet für drei Altersgruppen und für unterschiedliche Lese-Levels Bücher, die auch Erwachsenen sehr empfohlen sind und ein spannendes Familien-Tisch-Gespräch garantieren.