Rezension

So viel mehr als nur eine schöne Geschichte

Im Reich der Verborgenen - Melike Yasar

Im Reich der Verborgenen
von Melike Yasar

Bewertet mit 5 Sternen

Ein ganz wunderbarer Roman, mit einem poetisch anmutendem Schreibstil, in dessen tiefgründiger Geschichte ich mich verlieren konnte.

Wann bezeichnen wir ein Buch als wundervoll, als Lesehighlight?
Ich persönlich wähle diese Bezeichnungen, wenn ich mich darin so sehr verlieren kann, dass ich meinen Alltag beiseite schiebe und mich in der Handlung wiederfinde. Wenn ich anfange zu träumen, mitzufühlen, mitzufiebern und das Ende der Geschichte vor mir herschiebe, um diese Welt nicht verlassen zu müssen.
Bei Mehliqa Yigits Roman ist es mir definitiv so ergangen. Diese Geschichte um Shahiqa, der Protagonistin, ist mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich nach dem Ende wehmütig das Buch geschlossen habe und schon jetzt die Fortsetzung kaum erwarten kann.

Inhalt:

Shahiqa erwacht in einem Wüstengeröll. Alles, woran sie sich erinnern kann, ist ein Traum, der sich fortan wiederholt: eine Frau im Brautkleid, der jemand eine Nachricht überbringt. Verzweifelt versucht sie, einen Weg in die nächstgelegene Stadt zu finden. Doch wird sie bewusstlos, ehe sie dies schaffen kann. Dem Verdursten nahe, bekommt sie eine Schale Wasser gereicht. Doch glaubt sie, nur wieder geträumt zu haben. Da erscheint vor ihr ein blaues Licht. Dieses weist ihr fortan den Weg.
Der Heerführer Shaheen findet die Bewusstlose am Ufer eines Flusses und verarztet sie. Schließlich findet sie sich in einer ihr gänzlich unbekannten Gegend wieder. Die Menschen tragen seltsame Kleider, sind nur eineinhalb Meter groß und haben spitze Ohren. Shaheen erklärt ihr, dass sie durch ein Portal in die Welt der Dschinn gelangt ist und solange dort bleiben müsse, bis sie sich selbst gefunden habe. Ihr werden Prüfungen auferlegt. Die meisten dienen dazu, ihr Erinnerungsvermögen zurückzuerlangen. Zusammen mit einer Elitetruppe macht sich die junge Frau auf den gefahrvollen Weg.

Meinung:

Ich muss zunächst erklären, dass die Thematik des Buches für mich völliges Neuland war. Ich habe mich vorher weder mit den Dschinn beschäftigt ( abgesehen  von Aladdin), noch mit Geschichten aus 1001 Nacht. Und so bin ich absolut unvoreingenommen an die Geschichte herangegangen.
Bereits auf den ersten Seiten hat sich für mich der WOW-Effekt eingestellt.
Was für ein wunderschöner, fast schon poetischer Schreibstil, der mich sofort in seinen Bann gezogen hat. Ich finde keine Worte für diese wunderschönen Bilder, die in meinem Kopf entstanden sind und mich zum Träumen brachten:
 "Ich schaue nach links, schräg gegenüber neigen sich Äste der gewaltig hohen Bäume, die vielleicht Zeugen der Jahrhunderte sind, unter der Last des schweren Schnees zu Boden."..."Die sich gelegentlich zeigenden Strahlen der Sonne fallen durch die dicken grauen Wolken und bringen das weiße Wunderwerk des Himmels zum Glänzen, wie tausend Edelsteine."
 "In größeren Abständen sichtete sie abgestorbene Bäume, ausgeblichen von der Sonne, sodass sie weiß, wie Knochen waren. Trockene Dornenbüsche, die sich an die Felsen festgekrallt hatten, um nicht vom unaufhörlichen, heißen Wind hinfortgerissen zu werden."
( um nur einige Beispiele zu nennen)
Ich hatte während der kompletten Lektüre das Gefühl dabei zu sein. Ich habe die Landschaften, ob Wüste und Ödland, ob fruchtbare Wiesen und Wälder, ob Dörfer und Städte mit orientalischen Märkten in all ihren Details vor Augen gehabt. Jedes Erlebnis Shahiqas habe ich gefühlsmäßig und körperlich geteilt. Ich war einfach dabei.

Unterstützt wurde dieses Gefühl von den sehr liebevoll gezeichneten Charakteren, die man einfach alle in sein Herz schließt. Jede einzelne Figur ist sehr facettenreich und mit viel Tiefe gestaltet. Ich kann mich kaum für einen Lieblingscharakter entscheiden. Ob es die Hauptprotagonistin Shahiqa ist, die zu Beginn aus ihrem Leben gerissen wird und trostlos, verwirrt , ohne jegliche Erinnerung bei den Dschinn zu sich kommt. Ihre anfängliche Angst, ihr Schmerz und ihre schrecklichen Erlebnisse waren für mich so greifbar, dass ich mit ihr zitterte, litt und weinte. Ihre innere Leere teilte. Und doch macht diese junge Frau im Laufe der Geschichte eine unglaubliche Entwicklung mit. Tapfer stellt sie sich ihren Aufgaben, verliert nie den Mut und nimmt an, was auf sie zukommt, immer den Blick nach vorne gerichtet.
Oder ob es der stolze Dschinn Shaheen ist, der selbstlos Shahiqa ihren Weg ebnet, für die Reise, die sie antreten muss. Dabei stellt er die in ihm aufkommenden Gefühle zurück. Er strahlt Ruhe und Selbstsicherheit aus und kann doch aufbrausend sein. Ein sehr faszinierender Charakter. Müsste ich mich entscheiden, würde mein Herz diesen beiden Protagonisten gehören.
Ich kann nur betonen, es lohnt sich, sich mit allen Figuren sehr genau auseinander zu setzen. Denn jede hat etwas Bedeutendes zu erzählen, und gibt dem Leser wichtige Weisheiten und Erkenntnisse mit auf den Weg. Dies ist wichtig um all das zu begreifen, was uns Mehliqa Yigit mit ihrem Roman sagen will.

Gleiches gilt für die Handlung, die sofort in einem hohen Spannungsbogen ansetzt und erst einmal viele Fragen für den Leser bereithält. Diese Fragen und deren Beantwortung ziehen sich über die gesamte Handlung und halten den Leser immer wieder in Atem. Es lohnt sich wirklich sehr sorgfältig zu lesen, denn in der Geschichte steckt nicht nur eine einfache spannende Handlung, die neben ruhigen Elementen zum Genießen, auch durchaus für Atemaussetzer in manch actionreichen Szenen sorgt, sowie Schmunzler enthält. Denn wenn wir zwischen den Zeilen lesen, nehmen wir wahr, dass hinter der eigentlichen Fantasy-Geschichte etwas viel Tiefgründigeres verborgen ist.
Dieser Roman hat eine Aussage, die sich nach und nach entfaltet.
Es geht um die Verarbeitung von Schmerz und Leid. Es geht darum, sich seinem Schicksal zu stellen, es zunächst anzunehmen, um dann Gründe zu erkennen, warum manches so nicht gut für uns ist. Es geht darum, sich auf den Weg zu machen, um sein Leben zu verbessern, indem man ein Ziel findet, sich selbst findet und Liebe wieder in sein Leben lässt.
Ein fast schon psychologischer Ansatz, gut versteckt in einer schönen Geschichte.

Es steckt sehr viel Arbeit, Liebe und Herzblut in diesem Roman und das merkt man ihm auch an.

Und da wären wir beim Kern dessen, was das Buch für mich so besonders und grandios macht. Ich war beim Lesen auf einmal persönlich berührt. Ich konnte mich identifizieren und Tränen, die ich vergossen habe waren echt. Es kamen eigene Erinnerungen hoch und ich fühlte mich, als wäre ich Teil der Geschichte. Shahiqas innerer Kampf war mein eigener. Das mag sich für manchen lächerlich anhören, für mich war es ein Erlebnis.

Ich könnte noch so viel mehr schreiben, warum dieses Buch für mich ein persönliches Highlight ist, aber das sollte jeder für sich selber herausfinden.

Fazit:

Mehliqa Yigit gilt zunächst mein voller Respekt für dieses feinfühlige Werk, das eine wirklich tiefgründige Geschichte entfaltet, aus der jeder Leser etwas für sich mitnehmen kann.
Das offene Ende des ersten Teils lässt mich mit Wehmut und Herzklopfen zurück, und ich kann eigentlich nicht mehr abwarten, wieder in diese Welt einzutauchen.
Ich kann jedem diesen wunderbaren Debut-Roman nur ans Herz legen. Und ich danke für dieses Leserlebnis.