Rezension

Sophia

Sophia oder Der Anfang aller Geschichten - Rafik Schami

Sophia oder Der Anfang aller Geschichten
von Rafik Schami

Bewertet mit 3.5 Sternen

„Ich bin kein Muslim, auch kein Christ, Druse oder Jude, meine Religion ist die Liebe, verstehst du?“ 
Eine Religion, die immer weniger verstanden wird. Zumal in Syrien und anderen Ländern, die bedroht vom islamistischen Terror, zunehmender Fundamentalisierung der Gesellschaften oder brutaler Unterdrückung durch diktatorische Regimes nichts mehr haben von jener orientalischen Toleranz, in der über Jahrhunderte unterschiedliche Religionen nicht immer im Frieden, aber zumindest zusammen leben konnten. 
Wie wenig von dieser einstigen Farbigkeit und Lebendigkeit übrig geblieben ist, muss Salman, der Protagonist von Rafik Schamis neuem Roman bitter erfahren, als er nach vierzigjährigem Exil in seine Heimatstadt Damaskus zurückkehrt und dort bald einer Intrige zum Opfer fällt, um sein Leben fürchtet und untertauchen muss.
In den Siebzigern musste er fliehen, nachdem er als Kämpfer im bewaffneten Untergrund gegen den durch einen Putsch an die Macht gekommenen Diktator Hafiz al-Assad einen Polizisten angeschossen hatte. Zunächst lebte er in Deutschland, erhielt auch die deutsche Staatsbürgerschaft.
Damit hat Salman einige Eckdaten mit seinem Schöpfer Schami gemeinsam. Dieser bleibt auch immer ganz nah dran an seiner Figur, verlässt auch dessen Milieu des gehobenen Bürgertums kaum. Das ist ein wenig bedauerlich, da Salman mit seiner erotischen Gier - auch in Damaskus ist seine Potenzpille Gigante XXL immer greifbar - und seinem Selbstbild als unwiderstehlicher Frauenschwarm nicht durchweg als Identifikationsfigur taugt.
Sehr schön beschreibt Schami die Familienzusammenkünfte, die Wiederbegegnung mit Damaskus, die nur teilweise so erfolgt wie erträumt, die Enttäuschungen, die Salman erlebt, aber auch die herzliche Freundschaft und Wärme, die ihm widerfährt. Der Leser taucht ein in turbulente Familienessen, derbe Gespräche, farbige Gassen, sehr bildhaft und sinnlich.
Sehr deutlich, politischer als in seinen vorherigen Romanen, prangert der Autor aber ebenso nicht nur die brutalen Unterdrückungs- und Verfolgungsmethoden des durch unterschiedliche Geheimdienste agierenden Staates an, sondern auch die Übermacht, die die "Sippe" in der Gesellschaft hat. Korruption, Ehrenmord, innerfamiliäre Gewalt, schlecht funktionierende Infrastruktur, alles Probleme, die durch den übermächtigen Zwang der Sippe entstehen oder zumindest begünstigt werden.
Doch dies ist nur ein Zweig des Romans. 
Rafik Schami wäre nicht der großartige Erzähler opulenter, überbordender Geschichten, wenn er nicht in kunstvoll aufgebauten Zeit- und Ortssprüngen etliche andere Handlungsstränge mit diesem Zweig verflechten würde. 
Da ist vor allem die große Liebesgeschichte von Aida und Karim, beide schon "im Herbst ihres Lebens", sie Christin, er Muslim, die gegen alle Widerstände und Anfeindungen ihre Liebe leben. Und von Karim stammt auch das Anfangszitat zu dieser Rezension. „Ich bin kein Muslim, auch kein Christ, Druse oder Jude, meine Religion ist die Liebe, verstehst du?“ 
Er ist ein früherer Geliebter Sophias, Salmans Mutter und Namensgeberin des Romans. Und er ist es auch, der Salman vor den Verfolgern versteckt und seine heimliche Ausreise inszeniert. 
Unzählige Personen tauchen weiterhin mal mehr, mal weniger kurz auf, unzählige Geschichten und Episoden werden aufgeblättert, nie verliert der Autor aber seinen Erzählfaden, den er wie in Tausendundeiner Nacht spinnt. 
Rafik Schami mag die Menschen, liebt Syrien und Damaskus, das merkt man in jeder Zeile, auch wenn er nicht mit Kritik spart. Dabei bringt er auch so manche, wie es einmal eine Kritikerin nannte, "Sprachsüßspeise" hervor. Das sieht man ihm nach, denn seine menschenfreundliche Haltung und seine unbeirrbare Hoffnung, dass sich irgendwann etwas ändern wird, sind gerade heute, wo Verzweiflung und Ratlosigkeit angesichts der Vorgänge in Syrien und ähnlichen Staaten vorherrscht, etwas absolut Wohltuendes.