Rezension

Spannender Ansatz! ​

Böse - Julia Shaw

Böse
von Julia Shaw

Bewertet mit 3.5 Sternen

Spannender Ansatz und vielseitige Themenwahl. Regt auf jeden Fall zum Nachdenken an! ​

In „Böse“ setzt sich Julia Shaw auf ungewöhnliche, interessante, teils auch provokante Art und Weise mit dem Begriff des „Bösen“ und unseren Assoziationen damit auseinander.
Sie erklärt verschiedene Phänomene, hinterfragt, ob „böse“ Taten in anderen Kontexten und aus anderen Blickwinkeln nicht vielleicht verständlich sind, ob und warum wir alle auch manchmal böse Dinge denken und tun und was genau „das Böse“ eigentlich ausmacht. Von Trollen im Internet bis hin zu Pädophilien und Adolf Hitler finden alle möglichen Schattierungen des „Bösen“ in diesem Buch ihren Platz, verknüpft und erklärt sowohl mit (neuro-)psychologischen Theorien als auch philosophischen Überlegungen.

Wer jedoch Analysen der Psyche von Serien- und Massenmördern erwartet, ist hier an der falschen Adresse. Julia Shaw setzt am Alltag eines jeden Menschen an. Sie erklärt beispielsweise, wieso auch psychisch gesunde Menschen Vergewaltigungs- und Mordfantasien haben, und erläutert, wieso die meisten Menschen Dinge tun, obwohl sie wissen, dass sie „böse“ sind (z.B. Fleisch aus Massentierhaltung essen). Durch private Beispiele aus ihrem Leben sowie die direkte Ansprache und nicht selten auch Provokation der Leser*innen wird das Buch auf diese Weise persönlich gestaltet und regt auch zum Nachdenken über die eigene Person an.

Dies dürfte eines von Shaws Zielen gewesen sein, denn die Entmystifizierung des „Bösen“ als ein von uns „guten Menschen“ klar abgegrenzte Einheit ist einer der Hauptaspekte des Buches. Die Autorin weist unter anderem darauf hin, dass alle Menschen Dinge tun, die andere als böse betrachten würden, und man daher mit urteilen über „böse Menschen“ nicht so leichtfertig umgehen sollte. Besonders nachdenklich stimmte mich die Aussage, dass man Menschen, die man von der eigenen Gruppe als „die Bösen“ abgrenzt - besonders dann, wenn sie als hoffnungslos und böse geboren angesehen werden -, damit auch auf gewisse Art entmenschlicht.

Wichtig ist ihr auch die Abgrenzung des Konzepts „böse“ von psychischen Krankheiten, in meinen Augen ebenfalls ein sehr interessanter Punkt. Nicht alle Menschen, die Böses tun, sind psychisch krank, auch wenn es für uns vielleicht leichter wäre, uns Mord und Missbrauch damit zu erklären. Doch, wie Shaw schreibt, böse Taten auf psychische Erkrankungen zu schieben, würde auch bedeuteten, die Menschen aus der Verantwortung für ihre Taten zu entlassen.

Sehr wichtig und interessant fand ich auch das Kapitel über Pädophilie. An diesem Beispiel zeigt Shaw, wie die Dämonisierung einer Sache (in diesem Fall einer psychischen Erkrankung) mehr Schaden anrichten kann als die offene, kritische Auseinandersetzung damit. Sie verteidigt selbstverständlich nicht Kindesmissbrauch und macht deutlich, dass Pädophile ihrer Neigung niemals nachgehen sollten. Sie weist aber daraufhin, dass Pädophile eher Gefahr laufen, ihrer Neigung nachzugeben, wenn sie sich damit alleine fühlen und keine professionelle Hilfe bekommen, und dass sie eher Hilfe suchen und annehmen würden, wenn mit dem Thema offener umgegangen würde.
Dieses ist nur eines von vielen Beispielen, in denen Shaw geschickt, meist mithilfe wissenschaftlicher Studien, einen neuen Blickwinkel auf Themen rund ums „Böse“ eröffnet.

Bei all dem Potential, das das Buch hat, ist es jedoch nicht perfekt umgesetzt. Die Kapitel wirkten auf mich beispielsweise häufig unstrukturiert. So beginnt z.B. das Kapitel über Paraphilien mit der Aussage, man wisse vermutlich nicht, was „pervers“ eigentlich sei, ohne dass dies im Kapitel je erklärt würde. Generell benutzt Shaw häufiger - auch im Zusammenhang mit Studien, in denen diese sicher klarer definiert waren - Begriffe, ohne diese näher zu erläutern, obwohl das fürs Verständnis sinnvoll gewesen wäre (z.B. „schwules Aussehen“ oder „attraktive Menschen“).

Bei der Erwähnung einiger neurologischer Studien fehlte mir persönlich die Information, dass die Hirnaktivität und -struktur nicht nur das Verhalten bestimmt, sondern auch vom Verhalten bestimmt wird - eine wichtige Information zur Auswertung bildgebender Studien, die Shaw als Psychologin mit Sicherheit geläufig ist.
Zudem enthält das Buch auch einige logische und sachliche Fehler. So wird an einer Stelle beispielsweise Hebephilie als Erregung durch Blut bezeichnet, obwohl die Autorin bereits im selben Kapitel erklärt hat, dass dieser Begriff die sexuelle Präferenz für Jugendliche bezeichnet. An anderer Stelle wird „transgender“ genannt, als es um Beziehungsformen geht, die in manchen Ländern noch immer verboten sind. Im Gegensatz zu den in einem Atemzug genannten sexuellen Orientierungen Homo- und Bisexualität handelt es sich bei transgender jedoch um eine Geschlechtsidentität, die weder hetero- noch homosexuelle Beziehungen und Orientierungen ausschließt.

In Shaws sonst für mich so logischen und klagen Gedangengängen gab es eine Argumentation, die für mich absolut keinen Sinn ergab und aus der ich nicht genau rauslesen konnte, ob sie aus der zitierten Studie oder vom Shaw selbst stammt. Im einem Absatz über verstärkte Flughafensicherheitskontrollen nach 09/11 zitiert Shaw einen Wissenschaftler, der festgestellt hat, dass nach dem Anschlag die Zahl der Autounfälle stieg, und zieht daraus den meiner Meinung nach höchst fragwürdigen Schluss, die komplexe Technologie der Sicherheitskontrollen würd uns umbringen, da sie für mehr Autounfälle sorge. Autounfälle entstehen jedoch nicht durch mehr Leute auf den Straßen sondern durch Missachten der Verkehrsregeln, abgesehen davon, dass nicht bewiesen werden kann, dass die Menschen aufgrund der Sicherheitskontrollen (und nicht etwa aus Angst vor Terrorismus) verstärkt Auto fuhren und dass genau diese zusätzlichen Menschen auf der Straße die Ursache für die erhöhte Unfallzahl waren. Als Wissenschaftlerin sollte Shaw der Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation bekannt sein.
Mir ist klar, dass sie vermutlich einen für ihr gesamtes Buch so unbedeutenden Sachverhalt nicht so ausführlich diskutieren wollte, doch meiner Meinung nach sollten dann solche Schlüsse besser nicht gezogen werden, wenn sie nicht genügend erläutert werden.

Fazit

„Böse“ regt mit seinem interessanten Ansatz zum Nachdenken über unser Konzept des „Bösen“ an und lässt die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Shaw behandelt eine Vielzahl interessanter Themen und spickt diese mit spannenden Studien.