Rezension

Sprachgewaltig, bildgewaltig, beeindruckend, einzigartig!

All die Nacht über uns - Gerhard Jäger

All die Nacht über uns
von Gerhard Jäger

Bewertet mit 5 Sternen

Vor zwei Jahren war dem Schriftsteller Gerhard Jäger mit seinem beeindruckenden Debütroman „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ ein erstaunlicher literarischer Erfolg gelungen. Den Erfolg seines zweiten, im August beim Picus-Verlag veröffentlichten Kurzromans „All die Nacht über uns“ mitzuerleben, der durchaus verdient auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises kam, blieb ihm schon versagt: Der Österreicher starb am 20. November im Alter von nur 52 Jahren.

„Gerhard Jäger zieht einen förmlich in seine Geschichte, man folgt ihm atemlos und ahnt nach und nach Schreckliches“, begründete die österreichische Buchpreis-Jury ihre Entscheidung. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie es dem Autor wieder gelingt, den Leser auf allen 240 Seiten zu fesseln, obwohl – vordergründig betrachtet – eigentlich überhaupt nichts geschieht: Ein Soldat hält in regnerischer, stockdunkler Nacht einsam Wache auf seinem Turm. Und doch prasselt in diesen zwölf Stunden nicht nur der Regen mit Blitz und Donner auf ihn herab, sondern auch tiefsitzende Erinnerungen an die erschütternden Ereignisse seines Lebens und treiben ihn in die Verzweiflung, wenn nicht sogar an den Rand des Wahnsinns. Denn hier auf dem Wachturm kann der Mann seinen Erinnerungen nicht entfliehen - „der einsame Soldat auf seinem einsamen Turm, er will mit seiner Großmutter reden, über all das, über ihre Flucht, über seine Flucht, [….] vielleicht sind wir alle auf der Flucht, Flüchtende wir alle, alle flüchtig.“

In jungen Jahren entfloh er einst der bedrückenden Enge seines Heimatdorfes in die Großstadt, wo er seine spätere Ehefrau kennenlernte. Der gemeinsamen Verantwortung für den Tod ihres kleinen Sohnes durch Ertrinken entfloh er, der junge Vater, auf lange Spaziergänge in die Felder, seine Frau floh in die innere Isolation und schließlich in den Freitod. Im vergilbten Tagebuch seiner Großmutter, das er auf seinem Wachturm liest, erfährt er von der Flucht der erst 14-Jährigen aus Pommern. Heute steht er selbst in dunkler Nacht Wache, um heimatlos gewordene Flüchtlinge an der Grenze abzuhalten, die durch ihr Eindringen die Ruhe und egoitische Selbstzufriedenheit seiner Landleute stören könnten. Der kurze Roman „All die Nacht über uns“ ist die tragische Chronik eines ganzen Lebens, das in nur zwölf dunklen Stunden über den Protagonisten – und in aller Dramatik zwischen Liebe und Schmerz, Verlust und Verantwortung zugleich über uns Leser – wie der gewaltige Regensturm in dunkler Nacht herabstürzt.

Es ist wie schon in seinem Debütroman diese erstaunliche Sprachgewalt, diese Bildgewalt des Buches, die den Leser in den Sog der bedrückenden Erinnerungen und Gedanken seines Protagonisten hineinzwingt und dem man sich kaum zu entziehen vermag: Man leidet mit dem Soldaten, man ängstigt sich mit ihm, wenn Geräusche in der Dunkelheit böse Ahnungen aufkommen lassen, und man fürchtet am Ende um sein Leben. Gerhard Jäger schafft es wie kaum ein anderer, die psychischen Gewalten wie auch Naturgewalten in seinen Sätzen lebendig und erdrückend werden zu lassen.

Durch den frühen Tod dieses durch sein eigenes Schicksal geprägten Autors, der nach Berufsjahren als Behindertenbetreuer, Lehrer und Außendienstvertreter erst spät zum Schriftsteller wurde und, seit seinem Unfall (2007) querschnittgelähmt, zum Schreiben einen Sprachcomputer nutzte, ist der deutschsprachigen Buchwelt ein großartiger Literat verloren gegangen.