Rezension

Stacheldraht Gefängnis Angst - Lippenstift Puder Kajal

Ein Hauch von Lippenstift für die Würde - Henriette Schroeder

Ein Hauch von Lippenstift für die Würde
von Henriette Schroeder

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Es geht dabei um Würde. Wenn man sich aus der Hand gibt, dann hat man natürlich keine Würde mehr." Herta Müller
Ein wenig Puder, etwas Rouge, schöne Haare oder ein raffiniert geschlungener Gürtel – eine Selbstverständlichkeit in unbeschwerten Friedenszeiten. Aber warum ist dies im Krieg, im Gefängnis, im Lager, in einem unfreien Land - bei all den anderen Nöten noch wichtig? In »Ein Hauch von Lippenstift für die Würde« berichten Frauen aus ganz verschiedenen Kulturkreisen, welche Bedeutung es gerade in Zeiten größter Not für sie hatte, ein gepflegtes Äußeres zu bewahren.
Diese Frauen haben in Sarajevo und Grosny versucht zu überleben; sind in Russland, China, der DDR, dem Iran verhaftet oder in Prag und Bukarest erniedrigt worden und haben die unmenschlichen Bedingungen in Lagern oft über Jahre erduldet. Bei ihrem Kampf zu überleben, ging es stets auch darum, Selbstachtung und weibliche Würde aufrechtzuerhalten – und hierfür konnten ein Hauch von Lippenstift oder eine saubere Bluse entscheidend sein. 
Auch die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die die Drangsalierungen durch den rumänischen Geheimdienst immer wieder erdulden musste, hat für dieses Buch einen ergreifenden, sehr persönlichen und engagierten Text geschrieben. Die Interviews und ebenso persönlichen Beiträge sind u.a. von CNN-Starreporterin Christiane Amanpour und Bestsellerautorin Emily Wu.
Das erste Buch zum Thema Weiblichkeit, Würde und Widerstand.
Ein Tabuthema, das jeden Tag an Aktualität gewinnt. (Verlagsseite) 

Henriette Schroeder hat Gespräche mit 23 Frauen geführt, die Kriege, Belagerungen, Flucht und Erniedrigungen überlebt haben. Die Erfahrungen dieser Frauen sind als Interviews, Briefe oder Aufzeichnungen der Betroffenen gedruckt, dazu jeweils eine kleine Fotoserie in Schwarz-Weiß zu jeder Frau.
Umschlagmotiv von Daniel Biskup, der diese junge Frau 1999 in einem Flüchtlingslager in Mazedonien fotografierte.

Was braucht man in Lagern, Gefängnissen oder auf der Flucht in ein unbekanntes Leben sicher nicht? Schminke, Make up oder Accessoires. (Denkt man. Wenn man sicher, geborgen und ohne Angst und Not lebt.)
Was braucht man am nötigsten, um in Folter, Vergewaltigung und Lebensgefahr durchzuhalten? Die persönliche Würde. Um sich als Mensch noch zu spüren, um die eigene Stärke zu mobilisieren, um sich der Gewalt nicht ausgeliefert zu fühlen.

Würde … in einer ausweglosen Situation … wie bekommt man sie … wie bewahrt man sie?
Sich selbst als individuellen Menschen sehen, als unverwechselbare Person, mit ein wenig mehr als gar nichts sich selbst, die eigene Schönheit und Einzigartigkeit unterstreichen. 

Frauen hatten und haben von jeher ein besonderes Gefühl für den eigenen Körper und seine individuelle Schönheit. Kosmetik ist neben Kleidung seit Jahrtausenden ein Mittel, um diese Schönheit oder die Freude an sich selbst zu betonen und darzustellen. Insofern ist der titelgebende Lippenstift ein Synonym für alle Möglichkeiten, mit denen Frauen sich selbst, ihr Aussehen und ihre Kleidung gestalteten, um so für sich ein Stück ihrer Würde zurück zu gewinnen.
Nicht grundlos scherten die Nazis den Frauen die Haare, konfiszierte die Stasi Spiegel. 

Schroeder stellt Beispiele aus verschiedenen Ländern, Kulturkreisen und historischen Epochen vor: Chinesinnen, die unter der Einheitskleidung bunte Blusen trugen, muslimische Frauen, die unter der Burka geschminkt sind, Frauen, die in Stöckelschuhen und schicken Röcken durch das belagerte und zerschossene Sarajevo eilten.
Sie stellt Frauen vor, die Schreckliches überstanden haben, sie interviewt Frauen, sie sammelt Erinnerungen in Wort und Bild.
Im Vordergrund der Gespräche, Texte und autobiographischen Zeugnisse steht nicht das Martyrium, sondern das Überleben. 

Ein Interview mit Herta Müller schließt das Buch ab. Man ahnt nun, warum die Nobelpreisträgerin ihre Lippen – im Verhältnis zu ihrem blassen Teint - so grell schminkt.

Fazit: Eine besondere, eine weibliche Form des Überlebens