Rezension

Stille Erzählkunst, nachdenklich umgesetzt

Ein treuer Freund - Jostein Gaarder

Ein treuer Freund
von Jostein Gaarder

Bewertet mit 4 Sternen

Ein Einzelgänger und sein redseliger Freund

„Warum erzählen Sie mir nicht Ihre Geschichte?“, fragte sie dann, und die meisten der notorischen Fragesteller könne sie dazu verleiten. Jeder hat nun mal eine Lebensgeschichte; vom Genre her gesehen, ist das Leben ein Epos.

Inhalt

Jakop Jacobsen hat ein sehr ungewöhnliches Hobby auserkoren, welches ihn in manch heikle Situation manövriert und von Außenstehenden gar nicht als das erkannt wird, was es für Jakop eigentlich ist. Der Norweger, der durchaus auch mit seinen schwedischen Nachbarn kommuniziert, lebt zurückgezogen mit seinem Freund Pelle, nachdem seine freudlose Ehe beendet wurde und besucht immer wieder diverse Beerdigungen, obwohl er die Verstorbenen überhaupt nicht kannte.

 Bereits im Vorfeld jeder Beisetzung sammelt er Daten und Fakten zu der Person, zu Hobbys, beruflichen Werdegängen und natürlich Informationen zu den Hinterbliebenen. Gut vorbereitet mischt er sich im öffentlichen Teil der Beisetzung unters Volk und hofft auf einen gemütlichen Ausklang der Feier in einem Restaurant. Dort bringt er sich ein und blüht auf, zeigt, wie gut er sich mit dem Verstorbenen verstanden hat, was sie verband und welch nachdrückliche Erinnerung bleiben wird. Für Jakop ersetzen diese wenigen Stunden im Kreis fremder Familien eine eigene Familie, ein Zugehörigkeitsgefühl, welches er in seinem Leben nicht empfinden kann. Doch eines Tages deckt Agnes, eine direkte Angehörige sein falsches Spiel auf, denn ihre Verwandte konnte keine endlosen Wanderungen mit besagtem Jakop unternommen haben, weil sie Zeit ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt war. Aber Jakops Reden berühren Agnes dennoch. Mit seiner ausgezeichneten Beobachtungsgabe, seiner Leidenschaft und seinem Esprit noch dazu von Erzählungen über eine Person die er überhaupt nicht kannte, hinterlässt er einen bleibenden Eindruck und sie beschließt, herauszufinden, was es mit seinem falschen Spiel tatsächlich auf sich hat …

Meinung

Dies ist mein zweiter Roman des norwegischen Autors Jostein Gaarder, der mich mit seinem Weltbestseller „Sophies Welt“ bereits vor 20 Jahren überzeugen konnte. Auch in seinem neuen Roman schlägt er stille Töne an und setzt sich sehr intensiv und überschaubar mit der Problematik des Einzelgängers, mit unfreiwilligem Alleinsein und daraus resultierenden Verhaltensweisen auseinander.

Im Zentrum dieser herzerwärmenden Geschichte steht ein Mann, dem man deutlich anmerkt, wie traurig und unzufrieden sein tatsächliches Leben verläuft. Immer wieder bemühte er sich in der Vergangenheit Anschluss zu finden, doch nie ist ihm die richtige Person begegnet, die sein Innerstes seine Besonderheiten erkannt und wertgeschätzt hätte. Und so entscheidet sich Jakop lieber für seinen imaginären Freund Pelle, der zwar nur eine Handpuppe ist, ihm aber dennoch die Treue hält und die stillen Stunden mit langen Gesprächen füllt. Der Autor entwirft ein bewegendes, sehr gut greifbares Bild des Protagonisten, den man sich ausgesprochen gut vorstellen kann, über dessen Tun man aber den Kopf schüttelt. Gaarder gleitet nie in die Sentimentalität ab, hält Distanz und beleuchtet auch die Gedankengänge hinter den eigentlichen Handlungen.

 Philosophieren kann man sehr gut über diesen Roman, weil er eigene Überlegungen fördert und den Leser mitnimmt auf eine Reise zum Außenseiter per se. Fast scheint Jakop zu fragen: „Warum verstehst Du mich nicht?“ oder „Was stört dich eigentlich an mir?“ Plötzlich sieht man den Menschen hinter der erbärmlichen Figur, die mutterseelenallein auf der Parkbank sitzt und laut mit einer Handpuppe spricht und stellt fest, dass man sich selbst wahrscheinlich auch keine Gedanken über denjenigen gemacht hätte, obwohl gerade dies bitter nötig wäre.

Ein kleiner Kritikpunkt waren für mich die etwas künstlich eingeflochtenen Episoden über die Etymologie der norwegischen Sprache, über alte Volksweisheiten und historische Schriften bzw. Mythologien. Zwar lernt man dadurch Jakop und sein anderes Steckenpferd (die Liebe zur Sprache) kennen, doch bringen die ausufernden Ausflüge zu Lehnwörtern und gemeinsamen Wortstämmen nur wenig Lesefreude und Gewinn für die Geschichte.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diese phantasiereiche Geschichte, die den Leser dazu bringt über Wahlverwandtschaften, Familienbande und Einzelgängertum nachzudenken. Die ihn dazu motiviert, hinter die Fassade eines offensichtlichen Eremiten zu schauen und möglicherweise dazu anregt, vorschnelle Urteile abzubauen. Ein Roman am Rande des Mainstream ist es ganz sicherlich und man sollte auch die leisen Erzähltöne mögen, um mit der Geschichte warm zu werden. Doch gerade nach dem Lesen stellen sich hier viele Gedankengänge ein, die der Geschichte auch im Nachgang zu Herzblut und Stärke verhelfen, man legt das Buch zwar beiseite, aber Jakop und Pelle würde man nun doch zu gerne kennenlernen.