Rezension

Tiefgründige Novelle, die unter die Haut geht

Schlaflose Nacht - Margriet de Moor

Schlaflose Nacht
von Margriet de Moor

Bewertet mit 5 Sternen

Die Frage nach dem "Warum"

Auf die profilierte niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor bin ich durch ihren brillanten Roman Der Maler und das Mädchen aufmerksam geworden, der mich sehr beeindruckt hat. Ihr einnehmender, klarer und poetisch-sinnlicher Erzählstil hat mich sofort gefangen genommen. Insofern war ich auch schon sehr gespannt auf ihre jüngst vom Hanser Verlag veröffentlichte Novelle Schlaflose Nacht, die in den 70er/80er Jahren in Holland spielt. Mit diesem Werk offenbart uns de Moor eine weitere Facette ihres schriftstellerischen Könnens: Mittels ihres profunden psychologischen Verständnisses katapultiert sie uns in die Gedankenwelt der namenlosen Ich-Erzählerin, eine junge Witwe, die in einer Nacht, in der sie wieder einmal keinen Schlaf findet, ihre kurze Ehe mit ihrem Mann Ton fragmentarisch Revue passieren lässt. Nach nur 14 Monaten des gemeinsamen Glücks hatte sich Ton plötzlich und ohne Vorzeichen im Gewächshaus erschossen – ein furchtbarer Schock für seine Familie und insbesondere für seine junge Frau, die am Boden zerstört ist und keine Erklärung für den Suizid ihres Mannes finden kann – zumal er auch keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Schlimmer als das Mitleid ist der unausgesprochene Vorwurf in ihre Richtung, den sie in jedem Blick der Dorfbewohner zu erkennen meint. Sie, die Zugezogene, die stets eine Fremde blieb, obwohl sie als Lehrerin der Dorfschule äußerst beliebt ist, fühlt sich plötzlich verloren und unsagbar allein. Doch entgegen aller Erwartungen zieht sie nicht fort, sondern bleibt in dem Haus, das Ton mit viel Liebe und Bedacht für sie beide eingerichtet hat, als ob sie hofft, doch irgendwann Tons geheimen Grund für seinen Selbstmord zu entdecken.

Eine Erklärung für das Unerklärliche

Einzig Tons resolute Schwester Lucia schafft es, sie aus ihrer Lethargie und Trauer zu reißen und rät ihr, nachdem einige Zeit vergangen ist, sich nicht abzukapseln, sondern einen neuen Mann zu suchen. Obwohl sie diesen Vorschlag zunächst für nicht angebracht hält, gibt sie mit Lucias Hilfe eine Anzeige auf – und arrangiert ein Treffen mit einem Mann, der in der Redaktion einer historischen Enzyklopädie arbeitet. Nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht macht sie das, was sie immer tut, wenn sie nicht mehr schlafen kann: Sie backt Kuchen und lässt sich dabei von Erinnerungen an die Zeit des Kennenlernens und den Beginn ihrer Liebe zu Ton übermannen. Schließlich kommt sie zu der bitteren Erkenntnis, dass sie von ihrem Mann eigentlich nur sehr wenig wusste, denn warum sonst konnte sie seine Tat nicht erahnen, geschweige denn verhindern? Für sie war es eine stille Liebe von zwei Menschen, die sich auf Anhieb und ohne viele Worte verstanden – doch vielleicht war sie ja auch zu still? Die Frage nach dem „Warum“ lässt sie nicht los, und sie beschließt, eigene Nachforschungen anzustellen. So spricht sie u.a. mit Tons Stiefmutter Mieke, die ihn nach dem frühen Tod seiner Mutter stets liebevoll umsorgte, und hofft, bei ihr eine Erklärung zu finden. Doch auch hier kommt sie nicht weiter. Aus lauter Verzweiflung durchsucht sie schließlich Tons Sachen und stößt dabei auf einen merkwürdigen Parkschein und eine mysteriöse Unbekannte. Voller Enttäuschung und Wut folgt sie dieser letzten Spur ihres Mannes, aber wird sie ihr die Erklärung bringen, auf die sie so verzweifelt hofft?

Eine tiefgründige Novelle, die unter die Haut geht

Mit Schlaflose Nacht ist Margriet de Moor eine bemerkenswerte, sehr berührende Erzählung gelungen, die ihresgleichen sucht. Sehr behutsam nähert sie sich in ihrer kleinen Novelle den großen Themen des Lebens an: Liebe, Verlust, Trauer und Neuanfang. Über allem schwebt die stets wiederkehrende Frage nach dem „Warum“, die wir in so vielen Phasen unserer Existenz stellen und auf die wir in den seltensten Fällen eine Antwort erhalten. Mit einem Mosaik aus Rückblenden, Gedankenfragmenten und Momentaufnahmen ihrer Protagonistin lässt de Moor uns an einer ganz unspektakulären und doch so innigen Beziehung zweier Menschen teilhaben, die durch Tons nicht nachvollziehbaren Freitod ein jähes Ende findet. Sie nimmt uns mit durch das Gefühlslabyrinth ihrer Erzählerin, die nach einem Fall ins Bodenlose ganz langsam ins Leben zurückfindet.

Und in vielen kleinen Dingen finden wir uns sogar wieder, insbesondere dann, wenn uns Trauer und Wut schon einmal sprach- und mutlos gemacht haben. De Moor zeigt uns auch, was den Menschen in solch dunklen Momenten ausmacht: Die Fähigkeit, nach vorne zu schauen, sich der Liebe zu erinnern, sich mit Vergangenem zu versöhnen und einen Neuanfang zu wagen. All dies offenbart uns de Moor in dieser kurzen Novelle mit einer expressiven und stimmungsvollen Sprache, die ins Herz trifft und die Essenz unseres Menschseins bewegt. Mein Fazit: Sehr lesenswert!