Rezension

Trauer als Krankheit, die überlebt werden muss

Meine Zeit der Trauer - Joyce Carol Oates

Meine Zeit der Trauer
von Joyce Carol Oates

Bewertet mit 4 Sternen

Joyce Carol Oates war fast 50 Jahre lang mit Ray Smith (*1930) verheiratet, der mit ihr gemeinsam die renommierte Literaturzeitschrift "Ontario Review" herausgab. Das Paar war selten länger als einen Tag voneinander getrennt. 2008 verstarb Ray Smith überraschend nach einer Sekundärinfektion, die er sich im Krankenhaus zugezogen hatte. Wer schon einmal mit einem plötzlichen Todesfall konfrontiert wurde, kennt die Selbstvorwürfe, die Oates in wiederkehrenden Zyklen plagen. Immer wieder durchlebt sie in Gedanken die letzten Stunden, bevor sie ihren Mann mit einer schweren Lungenentzündung in die Notaufnahme des Krankenhauses brachte. Er hatte eigentlich keine Zeit krank zu sein, Termine drängten und Ray Smith war überzeugt davon, in wenigen Tagen wieder als Herausgeber arbeiten zu können. Was wäre, wenn ich meinen Mann in ein anderes Krankenhaus gefahren hätte oder wenn in der Nacht seines Todes nicht nur Assistenzärzte Dienst gehabt hätten; warum konnte ich den Tod, den ich als sinnlos emfpinde, nicht verhindern? Oates Selbstzweifel reichen noch tiefer; denn nur ein Jahr zuvor überlebte das Paar mit viel Glück einen Autounfall. Du hast kein Recht zu trauern, du hättest bei dem Unfall sterben können, wirft sich die Witwe nun vor. Auch in der Anspannung, die unmittelbar auf die Todesnachricht folgt, dem äußerlichen Funktionieren und automatischen Erledigen in diesem Moment sinnloser Hausarbeiten, werden sich viele Betroffene wiedererkennen können. Das leere Zuhause ist plötzlich kein Zuhause mehr und sogar die Katzen reagieren verstört. Gerade noch Mrs. Smith, nun plötzlich die Witwe, realisiert Oates, dass ihr Ehemann Ray der Hüter von Haus und Garten war und das Paar alle Entscheidungen stets gemeinsam traf. Ohne Ray wird nun alles zusammenbrechen. Nachlass- und Erbschaftsangelegenheiten sind zu erledigen. Der nötige Behördenmarathon konfrontiert die frisch verwitwete Autorin damit, dass für andere Menschen der Tod Routine ist.

Oates und Smith waren sich als Paar und in ihrer Leidenschaft für die Literatur innig verbunden. Da Ray Smith die Bücher seiner Frau und die Kritiken anderer darüber meist nicht las, bewahrte sich in dieser Autoren-Beziehung jeder einen abgeschiedenen persönlichen Bereich, zu dem der Partner keinen Zugang hatte. Ray Smith hinterließ ein unvollendetes Romanmanuskript, das er zugunsten seiner Lektorentätigkeit aufgab. Seine Witwe fragt sich nun, ob sie wissen möchte, was sie bisher nicht über ihn wusste? In ihren Erinnerungen bewegt sie sich weit zurück in die Zeit als Ray und sie sich kennlernten. Ständig treffen für den Herausgeber Ray Smith weiter Manuskripte zur Veröffentlichung oder zur Begutachtung ein; plötzlich sind Texte, die vorher Smiths ganzes Leben ausmachten, nur noch Dinge. Mit der Erkenntnis, dass die Zeitschrift eingestellt werden muss, endet eine Ära. Schließlich wird aus der frisch verwitweten Mrs. Smith erneut Joyce Carol Oates, die ihre Lehrtätigkeit wieder aufnimmt und während ihrer Vorlesungen für kurze Zeit ihre Verzweiflung ablegt. Schlaflosikgiet, Selbstmordgedanken, Medikamentenmissbrauch wechseln ab mit dem Wunsch, den sich sorgenden Freunden keine Last sein zu wollen.

Joyce Carol Oates unternimmt in ihren Erinnerungen an Ray Smith eine Pilgerreise. Tiefe Verzweiflung wechseln ab mit Phasen des Galgenhumors gegenüber den Widrigkeiten des Alltags und mit tiefer Dankbarkeit für die außergewöhnliche Partnerschaft. Die Autorin beschreibt, stellenweise scharfzüngig, die eigene Verwandlung zur verwitweten Mrs Smith und wieder zurück. Oates protokolliert ihre Gedanken und Gefühle akribisch; die äußere Form des Texts aus kurzen Szenen, Gedankensplittern und Auszügen aus ihrer Korrespondenz spiegelt ihre innere Situation wider. Kursiv gesetzte Kommentare über "die Witwe" deuten den bevorstehenden Ausgang der Ereignisse an. Schließlich tauchen diese Kommentare nicht nur am Ende der Kapitel sondern auch direkt im Text auf. So taktvoll Oates sich über ihren Mann äußert, überschreitet ihr persönlicher für die Nachwelt festgehaltener Trauerprozess in seiner Ausführlichkeit doch Grenzen. Nicht jeder Leser, der sich für biografische Details aus dem Leben eines prominenten Paars der amerikanischen Literatur-Szene interessiert, möchte so akribisch über den Vorrat an Schlaf- und Beruhigungsmitteln im Haus unterrichtet werden. Oates dokumentierter Trauerprozess beeindruckt durch exakte Beobachtung und besonders durch Auszüge ihrer Korrespondenz mit Freunden. Auch die Ära ausführlicher persönlicher Briefe steht kurz vor ihrem Ende.