Rezension

Treffend, nachdenklich, zynisch ​

Spinner - Benedict Wells

Spinner
von Benedict Wells

Bewertet mit 4 Sternen

In Benedict Wells‘ ursprünglich erstem Roman trifft man seinen sehr speziellen Protagonisten Jesper Lier in einer sehr speziellen Lebenslage an. Es geht um Orientierungslosigkeit, die Frage nach dem Sinn, was man aus seinem Leben machten will, und wann man damit anfängt. Auch die Veränderung sozialer Kontakte, insbesondere der Beziehung zu Eltern und Schulfreunden, wenn man von zuhause wegzieht, spielt eine Rolle. Wells spricht hier zeitlose Themen an, die junge Menschen bewegen und ältere sicher einmal bewegt haben.

Jesper ist in all diesen Bereichen ein absoluter Extremfall. Er lebt abgekapselt in einer winzigen, unaufgeräumten Souterrainwohnung, in der überall Blätter aus seinem Roman herumflattern, an dem er selber nicht mehr wirklich mit Herzblut arbeitet, den er jedoch als Ausrede vorschiebt, um sich keinen gut bezahlten Job, einen Studiengang oder eine Ausbildung zu suchen. Er hat kaum noch Kontakt zu seiner Familie, nur einen einzigen Freund, ertränkt seine Probleme in Alkohol und versucht von einer Schlaftablettensucht loszukommen.

Obwohl ich persönlich nie an einen solchen Tiefpunkt war, konnte ich mich mit Jespers Gefühl, sich immer außen vor und ungewollt zu fühlen, dem Wunsch, endlich was zu tun und es dann doch nicht anzupacken, gut identifizieren.
Er ist eine sehr authentische Hauptfigur, nicht zwingend sympathisch, doch er wirkt echt. Wenn er beispielsweise versucht ein Mädchen zu beeindrucken und dabei recht unbeholfen wirkt oder auf einer Party genervt davon ist, dass andere scheinbar mit Leichtigkeit im Mittelpunkt stehen, während er ignoriert wird, konnte ich sehr gut mit ihm mitfühlen.
Authentisch ist auch sein Verschließen vor der Welt und vor sozialen Kontakten und der Glaube, die Welt sei ohnehin gegen ihn. In seiner Wut und seiner Überzeugung, alle anderen seien Lügner und Blender und er der einzig echte, obwohl er sich sicher insgeheim ein wenig nach der Geborgenheit und Sicherheit sehnt, die diese Leute scheinbar haben, erinnerte er mich mitunter an Salingers Holden Caulfield.

Zwischenzeitlich machte er mir jedoch auch Sorgen, denn er ist eindeutig mehr als nur orientierungslos. Er wirkt psychisch labil, hat beispielsweise extreme Wutausbrüche, fühlt sich verraten und verfolgt und halluziniert. Dies steigert sich im Laufe des Romans zu recht verwirrenden Extremen, die erst am Ende richtig aufgeklärt werden, aber dafür sorgten, dass mir das Buch zwischenzeitlich etwas zu abgedreht und unwahrscheinlich war.

Ein wenig hat man auch das Gefühl, dass Wells sich in Jesper selbst verewigt hat. Wie seine Hauptfigur ist auch er nach dem Abitur von München nach Berlin gezogen und die erste Version seines ersten Romans „Becks letzter Sommer“ hatte 1500 Seiten, ähnlich wie Jespers Roman mit seinen 1200 Seiten. Wieviel von Jespers kleiner Lebenskrise Wells ebenfalls selbst erlebt hat, bleibt wohl der Fantasie der Leser*innen überlassen.

Der Schreibstil des Romans ist sehr auf seinen Protagonisten zugeschnitten und sehr passend. Er wirkt jugendlich und arbeitet mit Umgangs-, teilweise auch mit vulgärer Sprache (z.B. Aussagen wie „Fick dich!“), bleibt dabei jedoch stets der Altersgruppe der Hauptfigur treu und ist - wie ich als ebenfalls 20-jährige versichern kann - durchaus realitätstreu.

Erzählt wird das Buch aus der Sicht von Jesper in der 1. Person und ist daher auch durchzogen von dessen Sarkasmus und seinen humorvollen, bösen aber treffenden Beschreibungen seiner Umgebung und seiner Mitmenschen.
Zwischenzeitlich wirken seine Gedankengänge auch etwas absurd oder wirr, doch als ich mich mit einigen davon genauer auseinandersetzte, wurde mir klar, dass ich selbst auch manchmal so denke und solche Überlegungen bisher nur in keinem Roman, den ich kenne, so direkt und unverfälscht wiedergegeben wurden.

Dennoch sind Benedict Wells auch viele nachdenkliche, beinah philosophische, schöne Passagen gelungen, die Momentaufnahmen des Lebens wunderbar treffend in Worte fassen. Dafür hat dieser Mann definitiv eine Gabe.

Der heimliche Sidekick des Romans ist übrigens die Stadt Berlin und ich denke, wer schon einmal dort gelebt hat, wird bestätigen können, dass Wells sie in ihrer Vielfalt, Bedrohlichkeit und mit all ihren Möglichkeiten und Gefahren treffend eingefangen hat.

Fazit

„Spinner“ ist ein authentischer Roman über die Orientierungs- und Antriebslosigkeit eines 20-jährigen, der einen Nerv trifft und für Gefühle und Gedanken der Hauptfigur mit Sensibilität und Humor genau die richtigen Worte findet. Jesper ist nicht unbedingt sympathisch, aber durchaus interessant und bietet Identifikationspotential.