Rezension

Trostlos

Bleib bei mir
von Elizabeth Strout

Bewertet mit 2 Sternen

Tyler nickte. … »Erzählen Sie mir, was sie quält.« Er versuchte es freundlich zu sagen, aber er war unendlich müde. »Ich bin so bedrückt.« »Ach, das tut mir leid, Doris.« Eine Pause, dann fragte er: »Und was bedrückt Sie – wissen Sie das?« »Alles«, antwortete sie. »Verstehe. Ach ja«, sagte Tyler und tippte sich mit den Fingerspitzen an die Lippen. »Das tut mir leid.« »Auf der ganzen Welt«, fügte sie hinzu. Und ohne jede Vorwarnung – nur ihre Augen röteten sich etwas – brach sie in Tränen aus. Er wandte den Blick ab. »Doris. Wissen Sie …« Er dachte: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich ausgelaugt vor Müdigkeit; wie oft war er in den vergangenen Monaten an dem Autohaus in Hollywell vorbeigefahren und hatte Neid auf die Verkäufer dort verspürt, deren Verantwortung für die Seelen ihrer Mitmenschen so viel weniger unmittelbar oder direkt war.

1959 in einer Kleinstadt in Maine. Der Tod seiner Frau vor einem Jahr hat Reverend Tyler Caskey völlig aus der Bahn geworfen. Nur wenige Jahre zuvor war er mit ihr (zu dieser Zeit schwanger mit dem ersten Kind) dort angekommen. Die Bewohner waren begeistert gewesen von dem jungen, sympathischen Geistlichen und er selbst brannte vor Eifer. Viel Zeit investierte er in seine Predigten, die er grundsätzlich auswendig lernte, damit er sie frei vortragen und dabei den Augenkontakt zu seiner Gemeinde halten konnte. Doch nun…

»Tyler nickte und stand auf, obwohl die Predigt in Wirklichkeit schon »vorbereitet« war. … Der Titel lautete nun doch nicht »Über die Fallstricke der Eitelkeit«. Katherines Magenverstimmung, der Besuch von Doris, das Gespräch mit Mrs. Ingersoll – all das hatte seinen Tribut von Tyler gefordert; die Predigt über die Eitelkeit war darüber auf der Strecke geblieben. Stattdessen würde er eine alte Predigt über die Prophezeiungen Jesajas halten, die noch aus seinen Ausbildungstagen stammte, auch wenn er sich … eingestehen musste, dass ihm nichts von dem damals Geschriebenen mit irgendetwas Gegenwärtigem zu tun zu haben schien.«

 

Tyler weiß, was er tun müsste und ist doch nicht in der Lage dazu. Außerdem sorgt er sich um seine fünfjährige Tochter Katherine. Schon mehrfach wurde er von der Schule angesprochen, weil sie „verhaltensauffällig“ wäre, weil sie entweder schweigt oder schreit, weil sie verstörende Bilder malt. Tyler fühlt sich hilflos und allein, einzig von seiner Haushaltshilfe fühlt er sich verstanden. Aber auch die hat gewaltige Probleme…

 

Meine Güte! Vom Lesen dieses Buches kann man selbst depressiv werden! Natürlich ist mir völlig klar, dass ein junger Mann, dessen Frau an (vermutlich) Krebs stirbt und ihn mit zwei kleinen Kindern zurücklässt, am Leben verzweifelt. Und ja – natürlich auch, wenn er Pastor ist, denn auch ein Pastor ist in erster Linie ein Mensch.

Natürlich hat der Tod der Mutter die kleine Katherine verstört! Wie soll eine Vierjährige auch verstehen, was selbst Erwachsene verzweifeln lässt? Und natürlich ist sie demzufolge und weil ihr niemand hilft „verhaltensauffällig“! Hilfe ist auch nicht in Sicht, weder für sie noch für ihren Vater, denn (gefühlt) die Hälfte der Gemeindemitglieder ist ebenfalls depressiv. Es findet sich die ganze Bandbreite an möglichen Ursachen dafür: Der Tod enger Familienangehöriger, im Krieg erlittene Traumata, ungewollte Kinderlosigkeit, fehlende Anerkennung, Eheprobleme…

Die andere Hälfte der Gemeinde könnte helfen? Sicher – aber die hat keine Zeit, weil sie fortwährend tratschen muss. Puh, das Lesen kostete mich ordentlich Nerven.

 

Ich könnte hier endlos trostlose Passagen zitieren, aber das spare ich mir lieber. Auch dem Laien erschließt sich, dass Tyler alle Symptome einer klassischen Depression zeigt. In dieser Verfassung ist er natürlich auch nicht in der Lage Katherine zu helfen, deren gesamtes Verhalten ein einziger Hilfeschrei ist. Bezeichnend für die traurige Gesamtsituation ist, dass die Klassenlehrerin (ebenfalls problembehaftet) sich immer nur über Katherines Verhalten beschwert und ihre Auffälligkeiten betont. Und dabei gibt es sogar eine Psychologin an der Schule, aber was die von sich gibt, schlägt alles. (Ich schlage gerade noch mal in Gedanken die Hände über dem Kopf zusammen.)

 

Ich hatte von Elizabeth Strout „Mit Blick aufs Meer“ gelesen. Auch dieser Roman spielt in einer amerikanischen Kleinstadt und gefiel mir sehr! Aber der hier… Natürlich gehören Klatsch und Tratsch zum Bild einer typischen Kleinstadt und natürlich haben Menschen Probleme, nicht selten auch ernsthafte. Gut, von einem Pastor, der an seinem Glauben zweifelt, liest man nicht so häufig und das hat der Handlung schon ein bisschen was Besonderes gegeben. Aber in der Summe war es für mich einfach ein wenig zu viel.

 

Was will das Buch aussagen? Nun, zum einen wohl, dass Geistliche auch Menschen sind. (Wer hätte das gedacht!) Zum anderen, dass man nicht ständig über „auffällige“ Mitmenschen lästern soll, sondern mal überlegen sollte, wieso diese so sind, wie sie sind und was man tun könnte, um ihnen zu helfen. Ach ja, und dass ein Mann es irgendwann schaffen sollte, sich gegen seine Mutter durchzusetzen. Beides sind wirklich überraschende Botschaften ;-)

 

Fazit: Nur zu empfehlen für Menschen, die sich gerne mit den Formen und Auswirkungen von Depressionen befassen. Wer selber gerade eher traurig ist, sollte die Finger von dem Buch lassen.