Rezension

Überraschung von Nesser

Himmel über London - Håkan Nesser

Himmel über London
von Håkan Nesser

Leonard Vermin ist todkrank. Seinen 70. Geburtstag, wohl den letzten, will er in London feiern und hat dazu seine langjährige Lebensgefährtin Maud und deren beide Kinder eingeladen; außerdem noch zwei Gäste, deren Identität zunächst unbekannt bleibt. Leonards Befinden ist sehr schwankend; Phasen von Verwirrung bis hin zum Identitätsverlust wechseln mit Erinnerungen, gestützt durch seine alten Notizen, und bedachter Planung seines Abschieds mit Abrechnung. Das erzeugt Spannung: Was soll bei der Feier wohl geschehen?

Auch die Gäste haben ihre Pläne. Maud sorgt für Leonards Wohlbefinden, doch echte Gespräche entstehen nicht. Ihr Sohn Gregorius erhofft sich ein fettes Erbe, denn er hat nicht nur Schulden, sondern muss auch mit einer Anklage wegen Betrugs rechnen; ihre Tochter Irina, die ihr Leben äußerlich gesehen im Griff hat, wird von einem Waschzwang geplagt und eine geheimnisvolle Lektüre legt lange verdrängte Erinnerungen frei. Milos weiß nicht, wieso er eingeladen wurde (der Leser ahnt es früh), doch in London lebt seine frühere Geliebte, und die Reise ist eine Chance, diese Beziehung wieder aufzunehmen.

Ein weiterer Handlungsstrang zieht sich um Lars Gustav Selen. Sein Leben verlief arm an Ereignissen, doch nun schreibt er seit Jahren an einem großen Roman, der in London spielt. Lars Gustav reist dorthin für letzte Detailrecherchen und um das Buch abzuschließen. Nach und nach entdeckt der Leser Parallelen zwischen seinem Leben, seinem Buch und dem Kreis um Leonard.

Ja, und dann gibt es noch einen geheimnisvollen Mörder, der London unsicher macht und das kriminalistische Element in die Geschichte bringt, das man von dem Autor Hakan Nesser erwartet. Diese Erwartungen werden teilweise erfüllt: Spannung, Mord, und wie gewohnt sehr unkonventionelle Protagonisten, deren Persönlichkeit detailliert ausgemalt wird. So wird der Roman zu einer psychologischen Studie. Dieser Anteil wird immer stärker im Verlauf des Buches; dazu kommt ein philosophischer Strang über die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit, über die Verbindungen zwischen Erzählung und Erzähler. Das Ende des Buches wird zwar manchen Krimifreund enttäuschen, doch dafür Liebhaber von philosophischen Gedankenspielen erfreuen.