Rezension

Unbekannter Austen-Roman

Lady Susan
von Jane Austen

Bewertet mit 4.5 Sternen

Neben den sechs großen Romanen sind noch einige Manuskripte von Jane Austen erhalten. "Lady Susan" war vermutlich ihr Erstling, geschrieben in der damals modernen Form des Briefromans. Veröffentlicht wurde er erst lange nach ihrem Tod - warum? Weil diese Form nicht mehr modern war? Oder liegt es eher an dem Inhalt, den man von einer Pfarrerstochter nicht erwarten würde, weil er den gängigen Moralvorstellungen so gar nicht entspricht?

Lady Susan ist seit wenigen Monaten verwitwet, aber Trauer ist ihr nicht anzumerken: Zu Gast bei der befreundeten Familie Manwaring hat sie gleichzeitig heftig mit dem Familienoberhaupt geflirtet und der Tochter des Hauses den erhofften Bräutigam ausgespannt. Das ruft nun doch einen zu großen Skandal hervor, und sie muss sich auf das Land zu ihrem Schwager zurückziehen. Auch dort findet sie einen entzückten Bewunderer, der zwar von ihrem schlechten Ruf weiß, sich aber von ihrer Schönheit und ihrer Eloquenz leicht umstimmen lässt. Während Lady Susan die Männer reihenweise um ihren süßen kleinen Finger wickelt, kann sie die Frauen nicht manipulieren: Ihre Schwägerin bleibt ihr gegenüber skeptisch und versucht, gegen ihre Intrigen vorzugehen, und ihre schüchterne Tochter weigert sich in einem Akt der Verzweiflung, den ihr zugedachten reichen, aber kindischen Bräutigam zu heiraten. Welches Töpfchen zum Schluss welches Deckelchen erhält, sei nicht vorab verraten.

Die heute ungewohnte Briefform gibt die Möglichkeit, jedes Geschehen konsequent aus der Sicht eines der Protagonisten zu schildern und so dem Leser die Identifikation zu erleichtern. Gleichzeitig werden durch die unterschiedlichen Perspektiven die verschiedenen Facetten deutlich. Die Manipulation der Hauptfigur zeigt sich gleich am Anfang: Im ersten Brief kündigt sie ihrem Schwager ihren Besuch auf dem Lande an und schildert, wie sehr sie sich nach einem ruhigen Leben sehnt, während sie im zweiten Brief an ihre Freundin beklagt, dass sie sich nun in ein ödes Dorf zurückziehen müsse. Diese Doppelbödigkeit bringt viel Lesevergnügen mit sich. Die Figur der Lady Susan, die sich gegen die Konventionen stellt und die Einschränkungen der weiblichen Rolle nicht akzeptiert, könnte viel Sympathie hervorrufen, würde sie nicht gleichzeitig ihre Tochter völlig lieblos als Spielball für ihre Interessen benutzen. In diesem Roman sind die Frauen die stärkeren Charaktere: Obwohl sie kaum Rechte haben, agiert Susan mit Verstand und lässt alle Männer kopflos werden; die einzigen, die ihre Machenschaften erkennen, sind andere Frauen. Wie die zurückgezogene Pfarrerstochter Jane Austen ein solches Bild von Männern und Frauen entwickeln und darstellen konnte, bleibt ein Rätsel.