Rezension

Und sie trennte ein Meer aus Glas

Das gläserne Meer - Josh Weil

Das gläserne Meer
von Josh Weil

Josh Weil “Das gläserne Meer”

 

Der märchenhafte Erstling “Das gläserne Meer” von Josh Weil handelt von einer ungewöhnlich tiefen Bruderliebe, die Dimitri Llovich Zhuvov genannt Dima für seinen Zwillingsbruder Yaroslav Llovich Zhuvov, genannt Yarik empfindet. Die beiden wachsen als Kinder auf einer Kolchose bei ihrem Onkel Avya auf, ein Ivan Durak gleicher, den großen russischen Dichter Puschkin zitierender, Holzpfeife rauchender Bauer.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion leben sie in der fiktiven Industriestadt Petroplavilsk. Die beiden Brüder arbeiten beide in einem riesigen Gewächshaus, der “Oranzheria”, des Oligarchen Boris Ramanovich Bazarov. Dieser investiert in das Projekt der “Zerkala”, eine Art riesige, geostationäre, satellitengleiche Spiegel, durch die es möglich ist, die ursprünglich tageslichtarme Landwirtschaft mit 24 stündigen Sonnenlicht zu fluten. Die Produktivität seines Unternehmens wird dadurch enorm erhöht, so dass die Ausbringungsmenge im Zweischichtsystem von je 12 Stunden Schichten rund um die Uhr geerntet werden kann. Dies ist ein enormer Wettbewerbsvorteil für die Region. Zusätzlich kann damit Energie eingespart werden und der lang anhaltende Winterblues der Bevölkerung hat auch keine Chance mehr. Das alles führt zur Freude von Bazarov  zu einer nie da gewesenen Gewinnmaximierung. 

Nun, in ihren 30ern ist Yaris glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder, zupackend, mit beiden Beinen auf dem Boden, ganz im Hier und Jetzt. Dima, der Träumer, der Idealist mit dem Kopf in den Wolken, hingegen lebt sorglos mit einem gezähmten, goldenen Hahn und seiner geistig verwirrten Mutter, deren sysyphusgleiches Tageswerk im Zunähen der Kleidung beider besteht, die er alsbald wieder auftrennt, zusammen. Trotz der charakterlichen Unterschiede verbindet beide auch im Erwachsenenalter noch eine besondere Innigkeit, doch haben die Umstände, hat das Leben zu einer merklichen Verschiebung der emotionalen Prioritäten zu Ungunsten Dimas geführt.

Als Yarik unbeabsichtigt das Interesse des mächtigen Oligarchen weckt, dieses als Chance nutzt, um sich und seine Ideen darzustellen, wird er von diesem gefördert, aber immer stärker auch vereinnahmt als  Vorzeigearbeiter des neuen Systems, wird zu dessen Gesicht. Dadurch wird der Graben zwischen ihm und Dima noch größer. Der jüngere kündigt, um als Puschkin zitierender Busfahrer sein Geld zu verdienen. Er schließ sich schließlich einer anarchistischen Gruppe an, die gegen die ausbeuterische Nutzung des Sonnenlichts durch den Zerkala vorgeht. Dabei lernt er Vika kennen, die versucht ihn zu verführen, während er aus dem 1820 geschriebenen märchenhaften Puschkingedicht “Ruslan und Ludmilla” zitiert.

Nun ist es keine durch ein aufeinander Zugehen zu überwindende Grenzlinie mehr, die  Brüder kämpfen nun nicht mehr nur nicht beide für die selbe Idee, sondern sie haben sich für zwei sich ausschließende Ideologien entschieden. Es gibt nur noch ein deine oder meine; Zerkalal oder Bruderliebe. 

“In ihm spiegeln sich die russische Natur, die russische Seele, die russische Sprache, der russische Charakter in solcher Klarheit, in solcher reinen Schönheit, wie sich eine Landschaft in der gewölbten Fläche eines optischen Glases spiegelt.” sagte der russischer Schriftsteller Nikolai Gogol einst über Turgenevs Werk, man erkennt Teile davon aber auch in “Das gläserne Meer”. Es sind überhaupt die prachtvollen Bilder und faszinierenden Verrücktheiten, die dem Buch seinen  Märchencharakter geben. Hinzukommen all die wunderbaren Reminiszenzen, das Verbeugen vor der russischen Kultur. Zitate russischer Nationalhelden wie Alexander Sergejewitsch Puschkin, der sich für die Ideale der französischen Revolution begeistern konnte und dessen Spottlieder auf den Zaren ihn in die Verbannung führten. Oder die Adaption des Namens des Turgenjev Helden Boris Ramanovich Bazarov aus “Vater und Söhne”, für den in der Mitte des 19. Jahrhundert das Wort Nihilist geschaffen wurde und der als Vertreter der alten, reformunwilligen Generation im Konflikt mit der idealistischen Jugend steht. Auch der goldfarbene Hahn Dimas könnte nach dem letzten Puschkin Märchen “Der goldene Hahn” benannt sein. So viel russische Seele und doch versucht Weil hier nicht das reale Russland darzustellen . 

Weil gelingt es das alles zerstörende, rücksichtslose Bild des Kapitalismus zu malen und das mit einer Poetik, die dem Märchen von den mit einer Silberschicht überzogenen Glasscheiben und ihrer Diktatur von Effizienz, Produktivität und Marktinteresse, die keine ausschließlich russische ist, eine besondere Schönheit verleiht.