Rezension

Ungewöhnlich

Ich bin die, die niemand sieht - Julie Berry

Ich bin die, die niemand sieht
von Julie Berry

MEINE MEINUNG

ALLGEMEIN

Ich bin die, die niemand sieht ist eine ganz ungewöhnliche Geschichte, der man von außen leider nicht ansieht, was in ihr steckt. Das Kleid des Mädchens auf dem Cover könnte ein dezenter Hinweis sein, dass die Geschichte nicht in der Gegenwart spielt, aber wirklich deutlich wird es nicht. 

PLOT

Ich bin die, die niemand sieht ist in drei Abschnitte eingeteilt: Davor, Danach und Heute. Die erste Auffälligkeit ist, dass die Kapitel unbeschreiblich kurz sieht. Manchmal hat man auf einer Doppelseite das Ende von Kapitel A, Kapitel B, Kapitel C und den Anfang von Kapitel D. Manche Kapitel bestehen aus nicht mehr als ein oder zwei Sätzen. 
Die Erzählform hat etwas von einem Tagebuch an sich, die Kapitel etwas von Tagebucheinträgen oder auch Briefen, die nie abgeschickt werden sollen; obwohl es nie explizit erwähnt wird. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass die Ich-Erzählerin Judith den Jungen, den liebt, mit Du anspricht. Der Leser wird also bis zu einem gewissen Grad in die Rolle des Lucas gedrängt, weil er immer wieder so angesprochen wird. Vom Stil her erinnert es stark an Ich wünschte, ich könnte dich hassen, was auch da zwar gewöhnungsbedürftig ist, mir aber trotzdem gut gefallen hat. 
Was mich ein wenig "gestört" hat, dass weder Klappentext noch Cover darauf hindeuten, dass es sich um einen historischen Roman handelt. Wann genau es spielt, wird nicht erwähnt, es fällt nur einmal die Jahreszahl '37, die zu dem Zeitpunkt bereits in der Vergangenheit liegt. Wir wissen nur, dass die Gemeinde Angst vor feindlichen Schiffen hat und dass alle kampffähigen Männer in eine Schlacht ziehen. Ein paar weitere Informationen sind die Art, wie sich die Frauen verhalten. Verabredungen mit Männern sind strengstens verboten, die Mädchen hoffen, möglichst schnell verheiratet zu werden, arrangierte Ehe zwischen jungen Mädchen und älteren Männern scheinen normal. Ich finde es ein wenig schade, dass die Aufmachung des Buches eher auf einen Thriller hindeutet, die eigentliche Geschichte aber eine ganz andere ist. Ein historisches Liebes-Drama, vielleicht. Das, was im Klappentext erwähnt wird, spielt sich bereits im ersten Drittel des Buch es ab und ist nicht Kern der Geschichte. Es geht nicht darum, dass Judith das Dorf retten muss. Es geht darum, dass sie ihre Stimme und damit auch ihre Hoffnung wiederfinden muss, um das Leben zu leben, das sie sich wünscht. Es geht darum, dass sie etwas wagen und sich über die Vorschriften ihrer strengen Mutter hinwegsetzen muss. Die Rettung des Dorfes spielt da nur eine Nebenrolle. 

FIGUREN

Die Figuren sind schwierig zu beschreiben. Da ist zum einen Ich-Erzählerin Judith, die entführt wurde und nach langer Gefangenschaft ohne Zunge zurückkehrt. Ihr Entführer hat sie ihr herausgeschnitten. Seitdem wird sie von ihrer Gemeinde als verflucht angesehen und ihre eigene Mutter verachtet sie und würde sie am liebsten verstoßen. Nur ihr Bruder Darrel hält noch zu ihr und versucht, sie normal zu verhalten. Erst mit der Zeit, als sie ihren Lebensmut wiederfindet, erkennt sie, dass sie noch mehr Freunde hat. Und dass ihre Chance auf Liebe gar nicht so gering ist, wie sie gedacht hat. Im Laufe der Geschichte muss sie lernen, ihre neuen Lebensumstände zu akzeptieren und sie muss einsehen, dass sie trotz Verstümmelung ein relativ normales Leben führen kann. Ob es ihr gelingt?
Darrel ist der wohl größte Sympathieträger der Geschichte. Er ist Judith' kleiner Bruder und behandelt seine Schwester so normal wie möglich. Er hilft ihr und versucht immer wieder, Situationen aufzulockern. 
Lucas, Maria und all die anderen bleiben leider etwas blass. Was ich schade finde, da gerade Lucas als männlicher Protagonist mehr hervorstechen müsste. Vor allem durch die ungewöhnliche Anrede "Du" über die gesamte Geschichte. Auch die strenge Mutter, die stets etwas lieblos und kaltherzig wird, bleibt einseitig beschrieben. Mir fehlt ein wenig die Tiefe der Figuren. 

SPRACHE

Auf die Sprache bin ich eigentlich eben schon eingegangen. Die kurzen Kapitel, das "Du". Das alles ist etwas gewöhnungsbedürftig und gerade die kurzen Kapitel lassen keinen richtigen Lesefluss entstehen. Trotzdem ist es gut geschrieben und der Stil ist angenehm, wenn man sich an das "Du" gewöhnt hat.

FAZIT

Eine nicht ganz so ungewöhnliche Geschichte sehr ungewöhnlich verpackt. Die Erzählform macht sie zu etwas Besonderem. 

3,5 von 5 Punkten
Cover 1/2 Punkt, Idee 1 Punkt, Plot 1/2 Punkt, Figuren 1/2 Punkt, Sprache 1 Punkt
~*~ cbj ~*~ 318 Seiten ~*~ ISBN: 978-3-570-40209-2 ~*~ Taschenbuch ~*~ 8,99€ ~*~ 11. November ~*~