Rezension

Ungewöhnliches - Fremdes - Anderes

Kurze Begegnungen mit Che Guevara - Ben Fountain

Kurze Begegnungen mit Che Guevara
von Ben Fountain

Bewertet mit 5 Sternen

Fountain führt den Leser an Orte, wo kein Tourist sich hinwagen würde. Seine amerikanischen Landsleute hat es dorthin verschlagen, um zu arbeiten oder um Gutes zu tun. Ein Ornithologe versucht trotz Geiselhaft durch kolumbianische Freiheitskämpfer eine seltene Vogelart zu retten; ein Entwicklungshelfer bemüht sich, Frauen oder auch kostbares Kulturgut vor dem Untergang zu bewahren; die Gattin eines Special-Forces-Offiziers besiegt eine haitianische Voodoo-Göttin, mit der ihr Mann eine nicht eindeutig spirituelle Beziehung unterhält. Verwegene Abenteuer in einem Mix aus Tragik, Gefahr, Aufruhr und Hoffnung, der so charakteristisch ist für Länder im Umbruch. Provozierend und scharfsinnig porträtiert Fountain seine Helden und Heldinnen, niemals lässt er sie im Stich, sondern spannt ihnen bei ihren existenziellen Drahtseilakten ein Netz aus Humor und Freundlichkeit auf. (Verlagsseite) 

Inhalt:
1. Aussterbende Vogelarten der Zentralkordilleren
John Blair, amerikanischer Ornithologe auf der Suche nach seltenen Vögeln in Südamerika, wird von Guerilleros gekidnappt und in deren Lager im Dschungel Kolumbiens gebracht. Dort macht er die Entdeckung seines Lebens: Eine kleine Kolonie Scharlachkappenpapageien, die auf der roten Liste stehen. 

2. Rêve Haitien
Mason gehört zum Beobachterteam der OAS in Port-au-Prince. Er sucht den Kontakt zu den Einheimischen, indem er in Parks sein Schachbrett aufstellt und seine Gegenspieler gewinnen lässt. Bis er auf einen Mulatten, einen „dokté fey“ – Kräuterdoktor – trifft, der sein Spiel durchschaut und Pläne mit ihm hat. 

3. Die Guten sind schon vergeben
Von den 15 Monaten ihrer Ehe ist Dirk seit acht Monaten im Spezialeinsatz in Haiti gewesen, und Melissa erwartet ihn voller Sehnsucht und Ungeduld. Doch: Dirk hat sich nach eigenen Angaben mit einer Voodoo-Göttin vereint, die ihm an bestimmten Wochentagen den Sex mit Melissa untersagt. 

4. Der Tiger von Asien
Der Amerikaner Sonny, als Golfprofi ein Anfänger, bekommt einen Vertrag in Rangun – jetzt Yangon – als Myanmars Golfbotschafter, Sport- und Tourismusberater und Gastgeber für durchreisende Geschäftsleute und Würdenträger. Was es mit den hochtrabenden Titeln und den riesigen Honoraren wirklich auf sich hat, erfährt Sonny erst nach und nach. 

5. Bouki und das Kokain
Nach dem Abzug der Friedenstruppen schießen Rennboote nachts am Strand von Port-au-Prince vorbei, die Drogen abladen, die anschließend nach Amerika exportiert werden. Der Fischer Syrto weiß, wo die Säcke zwischengelagert werden, und zusammen mit seinem Bruder Lulu birgt er sie und bringt sie zunächst zur Polizei, wie es jedem aufrechten Haitianer von vom Polizeichef per Radio empfohlen wird. Doch was dort passiert, bringt Syrto und Lulu dazu, sich beim nächsten Fund nach einem anderen Empfänger umzusehen. 

6. Im Rachen des Löwen
Jill bewirbt sich ständig um härtere Jobs in der Entwicklungshilfe und in NGOs. Zurzeit arbeitet sie in Sierra Leone, wo die Rebellen grausame Massaker unter der Bevölkerung anrichten. Sie hat Projekte ins Leben gerufen, für deren Weiterführung das Geld fehlt, verliebt sich in einen Mann, der mit Blutdiamanten sein Geld verdient, und scheint ihrer Weltanschauung untreu zu werden. 

7. Kurze Begegnungen mit Che Guevara
Der Ich-Erzähler, Sohn einer begüterter Südstaaten-Familie, begegnet in seinem Leben immer wieder Che Guevara (nach dessen Tod): Als Kind Ches Ex-Geliebten, mit 20 einem, mit dem der Guerillero in seiner letzten Nacht sprach, mit 30 einem Kampfgefährten, mit ca. 35 einer haitianischen Familie, die dauernd Ches Reden auf dem Ghettoblaster hört; mit über 40 resümiert er, dass sich nichts geändert hat. 

8. Fantasie für elf Finger
Anton Visser, Pianist und Sprachgenie, schrieb eine Fantaisie für Klavier, die nach ihm niemand spielen konnte, denn Visser hatte an der rechten Hand sechs Finger. Bis die junge Österreicherin Anna Kuhl als Wunderkind am Klavier entdeckt wird, ein jüdisches Mädchen, das von den ersten antisemitischen Strömungen in den 1910er Jahren eingeholt wird. 

Persönliche Meinung:
Es geht in allen Erzählungen um Menschen, die am Rande stehen, durch ihre Armut, durch ihren guten (oder bösen?) Willen, durch ihre Andersartigkeit oder durch ihre Lebensentwürfe. Gleichzeitig geht es um diejenigen, die sie begleiten, die helfen oder versuchen, Alternativen anbieten. 

Man kann Fountains Erzählungen „politisch“ nennen. Auch wenn er konkrete Figuren in konkrete Situationen steckt, denken, handeln und leben sie in einem politischen und gesellschaftlich eher bedrohlichen Kontext. Meist ist soziale Ungerechtigkeit das Thema oder Gewalt und Unterdrückung, die Macht der Wirtschaft und Finanzwelt.
Gleichzeitig wird klar: Es gibt keine Lösung. Auch wenn ein Einzelner, eine Gruppe sich bemüht, sich einsetzt und die besten Vorsätze hat.
Zum Beispiel: Ein Wirtschaftsembargo, gedacht von den westlichen Mächten gegen kriminelle, diktatorische und Menschenrecht verletzende Staaten, trifft auch die kleinen Händler, Betriebe und Bauern, während die Großen ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht haben oder Umwege entdecken, um das Embargo zu umgehen.
Die Ideen des Che Guevara – zumindest die guten – sind tot. Es hat sich tatsächlich nichts geändert. Nicht durch Revolutionen, nicht durch Umstürze, nicht durch Hilfsmaßnahmen, nicht durch Entwicklungshilfe.
Wurde oder wird tatsächlich ein Problem gelöst, hat es längst schon das nächste produziert. 

Fountains Figuren sind liebenswert und komisch, mit Zuneigung und Verständnis gezeichnet und trotz der geographischen und zeitlichen Entfernung so nah, so dass der Leser Anteil nimmt.
Darüber hinaus es schafft der Autor, spannende oder zumindest interessante Handlungen aufzubauen und schillernde Szenarien zu erschaffen: Ein Wissenschaftler gefangen im Lager der Guerilleros - ein Fischer im Drogen“geschäft“ zwischen Händlern und Polizei – ein Mädchen mit einer besonderen "Behinderung".
Einen moralischen Zeigefinger hebt Fountain nicht, braucht er nicht. Er lässt seinen Figuren den Raum, mit ihrem Gedanken und Handlungen die (oft fehlende oder zweideutige) Moral zu verkörpern. 

Mit diesem Band reiht sich der Autor in die Tradition der großen amerikanischen Erzähler, die mit ihren kurzen Prosastücken oft ihre besten literarischen Werke schufen.
Wer kurze Romane mag, sich gern in ungewöhnliche oder exotische Welten begibt, sich dabei mit fremden und speziellen Denk- und Handlungsweisen auseinandersetzt, dem möchte ich das Buch ans Herz legen, den interessantesten und brillantesten Erzählungsband, den ich seit Jahren gelesen habe.