Rezension

verständlich, ermutigend, humorvoll

Das Schweigen verstehen - Luise Lutz

Das Schweigen verstehen
von Luise Lutz

Bewertet mit 5 Sternen

Aphasie ist nicht nur der Verlust des Sprechens, sondern der Verlust der Sprache, des Sprachverständnis und der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben - ausgelöst durch einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung. Es handelt sich weder um eine psychische, noch um eine rein körperliche Störung, sondern um eine Beeinträchtigung im neurophysiologischen Bereich, die häufig durch eine zusätzliche Einschränkung der Seh- oder Konzentrationsfähigkeit verschlimmert wird. "Raus geht nicht" beschreibt einer von Lutz jüngeren Patienten seinen Zustand: sein Denken und Verstehen sind nicht beeinträchtigt, er hat mit dem Abrufen und Hervorbringen von Worten zu kämpfen. Ein anderer Patient berichtet, dass er sich nach seiner Erkrankung an die Existenz von Buchstaben erinnerte, aber nicht mehr wusste, wie er sie zum Namen seiner Frau zusammen setzen sollte.

Die erfahrene Neurolinguistin und Therapeutin für Aphasie beschreibt mit anschaulichen, treffenden Beispielen vier unterschiedliche Erscheinungsformen der Aphasie, ihre Begleitstörungen und ihre Behandlung. Damit Angehörige die Folgen der Störung verstehen, erklärt die Autorin zunächst Spracherwerb und -struktur. Sie geht dabei besonders auf den Unterschied zwischen dem Erlernen von Fremdsprachen und dem Wieder-Erlernen der eigenen Muttersprache ein, sowie dem Unterschied zwischen dem Spracherwerb eines Kleinkindes und dem Wiedererlangen der Kommunikationsfähigkeit bei Aphasie-Patienten. Lutz stellt das Krankheitsbild an mehreren betroffenen Patienten vor, auf deren Leben und Therapie sie im weiteren Text immer wieder zurück kommt. Sie erläutert, wie die Erkrankung die Verknüpfungen der Teilleistungen Sprechen und Schreiben, Verstehen und Sprechen, Sprechen und Wahrnehmung der eigenen Sprache zerstört hat. Am Beispiel typischer Versprecher gesunder Menschen (Ich muss noch ein ernstes Huhn mit ihm rupfen) erkennen die Leser die Logik, die hinter den unverständlich wirkenden Aussprüchen von Aphasikern steckt. "Bei Aphasie muss man erst mal im Keller aufräumen", (ehe man weiter ins Erdgeschoss geht), beschreibt die Autorin in ihrer treffenden, zupackenden Art die Therapie als Aufräum- und Reparatur-Aktion. Lutz sehr ausführliche Erläuterung des von ihr entwickelten MODAK-Konzepts hilft Angehörigen, Sinn und Grenzen der Sprachtherapie zu verstehen und das Geschick zu würdigen, mit dem Therapeuten für jeden Einzelpatienten eine akzeptierende, entspannte Übungssituation schaffen.

Die Autorin geht ausführlich auf die Sorgen von Angehörigen ein, gibt zahlreiche wertvolle Tipps zur Kommunikation mit Patienten, und erläutert, wie anstrengend Übungen für Betroffene sind, die Gesunden einfach erscheinen. Sie räumt dabei mit Missverständnissen und Fehleinschätzungen auf und stellt klar, warum Angehörige keinen Erfolg beim gut gemeinten "Üben" mit dem Patienten haben werden. Wichtiger sei, dem Betroffenen Zeit zu lassen, sich auszudrücken und in Gesprächen nicht über den Kopf der Patienten hin weg für sie stellvertretend zu antworten. Zwei ausführliche Berichte betroffener Aphasiker schließen sich an, sowie ermutigende Briefe, die Lutz an Angehörige ihrer Klienten schrieb. Das Buch hat ein umfangreiches Literaturverzeichnis; lässt sich durch den Satz in zwei Spalten pro Seite angenehm lesen und ist durch ein Stichwortverzeichnis gut zu erschließen.

Lutz zeichnet sich durch ihr Einfühlungsvermögen in Patienten und Angehörige aus, sowie durch ihr Geschick, in der Therapie jeden Patienten persönlich anzusprechen und individuell zu fördern. Die erfahrene Therapeutin besticht durch ihren Humor und ihre fesselnde, leicht verständliche Sprache. Die ersten Auflagen ihres Buch waren als Ratgeber für Angehörige konzipiert. In der 4. Auflage liegt mit "Das Schweigen verstehen" ein herausragendes Fachbuch vor, das Angehörige wie Fachkräfte gleichermaßen anspricht.