Rezension

Viele gute Ansätze, viel verschenktes Potential

Vox - Christina Dalcher

Vox
von Christina Dalcher

~ „Vox“ ist eine feministische Dystopie, die leider viel Potential verschenkt. Der Schreibstil ist zwar flüssig, aber ästhetisch leider nicht überzeugend und bietet nur wenig Abwechslung. Die meisten Personen bleiben seltsam blass und austauschbar, was es mir unmöglich gemacht hat, mir ihnen mitzufühlen und mitzuleiden. Zur Protagonistin habe ich ein gespaltenes Verhältnis: Die von ihr verinnerlichten Geschlechterstereotypen werden leider nur selten hinterfragt, ihre Gefühle werden dafür aber meist sehr anschaulich und greifbar geschildert. Ihre gelungene, interessante negative Zukunftsvision gestaltet Christina Dalcher nicht ausreichend aus –hier geht die Autorin leider nicht genug in die Tiefe, sondern kratzt nur an der Oberfläche. Der Roman, der immer mehr zu einem Thriller mit mittelprächtiger Liebesgeschichte wird, hat zwar durchaus seine gelungenen, spannenden Momente, wird aber dann zu einem überhastet wirkenden Höhepunkt geführt, der viel zu viele Fragen offen lässt. „Vox“ ist somit ein Buch, das viele gute Ansätze, aber leider auch große Schwächen hat und das mich daher leider enttäuscht hat. ~

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: S. FISCHER
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens (selten auch Präteritum)
Perspektive: aus weiblicher Sicht geschrieben
Kapitellänge: angenehm kurz
Tiere im Buch: -! Obwohl die Protagonistin wenigstens von ein wenig schlechtem Gewissen gequält wird und obwohl ihr die Tiere leidtun, ändert das nichts an der Tatsache, dass in diesem Buch unzählige Tiere in Tierversuchen leiden und sterben müssen. Hier auch wieder meine Empfehlung: Wenn ihr ebenfalls gegen sinnlose, oft grausame Tierversuche seid, schaut bitte beim Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ vorbei, der schon jahrelang engagiert und teilweise sogar schon erfolgreich für Alternativen und für eine tierversuchsfreie Forschung kämpft.

Warum dieses Buch?

Ich liebe Dystopien, ich liebe feministische Literatur, und ich fand Margaret Atwoods Roman „Der Report der Magd“ (im Original „The Handmaid’s Tale“) sehr gut. Aus all diesen Gründen führte für mich an diesem Werk, das mich mit seinem interessanten Klappentext sofort um den Finger gewickelt hat, kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg fiel mir sehr leicht. Der einfache Schreibstil und die kurzen Kapitel machten den Beginn sehr angenehm. Ich habe schnell in die Geschichte gefunden.
„Ich habe VOX als Warnung geschrieben, als Warnruf gegen eine Politik der Geschlechtertrennung, aber auch um zu zeigen, wie sehr unsere Persönlichkeit und Menschlichkeit von unserer Sprache abhängt.“ E-Book, Vorwort der Autorin, Position 49

Schreibstil (-)

Christina Dalcher schreibt flüssig und einfach, was mir auf den ersten Seiten sehr gefallen hat. Nach einer Weile bemerkt man aber, dass die Sprache zwar angenehm lesbar ist, leider aber auch sehr oberflächlich und etwas lieblos wirkt. Ich hätte mir hier mehr Komplexität, mehr Abwechslung und einen höheren ästhetischen Wert des Buches gewünscht, vor allem, da es sich hier ja nicht um einen Jugendroman handelt (was man leicht vergessen könnte, wenn uns die teilweise irritierend direkten Ausführungen der Protagonistin über ihr Liebesleben nicht immer wieder daran erinnern würden). Auch der Wortschatz scheint sehr begrenzt, wodurch es zu Wiederholungen und immer wieder auch zu gleichen Formulierungen kommt. Ob das an der Übersetzung liegt, kann ich leider nicht beurteilen. Auch die Vergleiche fand ich leider häufig lahm oder sogar schlecht. Sprachlich konnte mich Christina Dalcher also leider nicht wirklich abholen, obwohl es ihr durchaus gelingt, punktuell Spannung zu erzeugen und die Emotionen ihrer Figuren glaubwürdig und intensiv zu beschreiben.

„‘Die Frau hat keinen Anlass, zur Wahl zu gehen, aber sie hat ihren eigenen Bereich, einen mit erstaunlicher Verantwortung und Wichtigkeit. Sie ist die gottgewollte Bewahrerin des Heims … Sie sollte voll und ganz erkennen, dass ihre Stellung als Ehefrau, Mutter und Engel des Heims die heiligste, verantwortungsvollste und königlichste ist, die Sterblichen zuteilwerden kann; und sie sollte alle Ambitionen nach Höherem abweisen, da es für Sterbliche nichts Höheres gibt.“ E-Book, Position 893

Inhalt, Themen & Botschaften (+/-)

„Und wir haben es nicht kommen sehen.“ E-Book, Position 365

Ja, ich gebe zu, die Erwartungen waren sehr hoch. Nicht nur weil ich Dystopien liebe, sondern auch, weil ich feministische Literatur, die uns vor Augen hält, wie schnell es gehen kann, dass wir als Frauen unsere hart erkämpften Rechte wieder verlieren, sehr wichtig finde. Über Christina Dalchers Debüt habe ich im Vorfeld viel Gutes, aber auch viel Negatives gehört, ihr Buch wurde auch mit Margaret Atwoods Werk „Der Report der Magd“ (engl. „The Handmaid’s Tale) verglichen – einem feministischen Klassiker, der schockierender nicht sein könnte. Dennoch habe ich mich bemüht, möglichst unvoreingenommen an die Lektüre heranzugehen.

Die Prämisse ist erschreckend: Statt der 16.000 Wörter, die ein Durchschnittsmensch pro Tag von sich gibt, dürfen Frauen in der Zukunft nur noch 100 Worte benutzen (das ist fast gar nichts!) – ein Wortzähler am Handgelenk überwacht dies streng. Wer das Limit überschreitet, wird mit immer heftiger werdenden Stromstößen bestraft. Frauen wird so nach und nach ihre Stimme genommen, Religion gewinnt wieder die Oberhand, die entstandene Diktatur hat die Todesstrafe wieder eingeführt und schickt ihre Gegner in Lager oder Gefängnisse. Diese Ausgangssituation erinnert tatsächlich stark an Margaret Atwoods Roman. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Frauenrechte, Unterdrückung, Rebellion, Liebe, Familie und eine Frau, die innerlich zerrissen ist zwischen Liebe zu und Hass auf die Männer in ihrem nächsten Umfeld.

Hier enden aber auch schon die Parallelen. Die Geschichte hat viel Potential – man hätte sie zu einer unvergesslichen, schockierenden und wachrüttelnden Dystopie verarbeiten können. Leider verschenkt die Autorin einen großen Teil dieses Potentials: Obwohl der Beginn des Romans gut gelingt, merkt man schnell, dass hier viel zu sehr an der Oberfläche gekratzt und viel zu wenig in die Tiefe gegangen wird. Zudem wirkt konstruiert, Erklärungen fehlen. Statt auf drastische Weise das weibliche Leben in dieser düsteren Zukunft zu schildern und diese Welt detailliert auszugestalten, driftet die Dystopie immer mehr in einen herkömmlichen Thriller ab. Auch die mittelprächtige Liebesgeschichte nimmt (zu viel) wertvollen Platz in der Geschichte ein.

Dennoch handelt es sich bei „Vox“ sicher nicht um ein rundum schlechtes Buch – wenn die Erwartungen hoch sind, enttäuscht aber auch ein unterdurchschnittliches, das den Hype nicht wert zu sein scheint. Der Roman hat aber durchaus auch seine guten Seiten: Einige Szenen sind sehr atmosphärisch und stark geschrieben, außerdem schafft das Buch mit Sicherheit Bewusstsein für aktuelle anti-feministische Strömungen und die Gefahren, die von ihnen ausgehen. Alleine schon für die Themenwahl und ihre Botschaft ist die Autorin also zu loben. Eines gelingt dem Buch auch ohne Zweifel: Man beginnt ganz unbewusst, die Wörter der Figuren (und teilweise sogar die eigenen im realen Leben) mitzuzählen, jedes davon scheint kostbar – wie schnell sie verbraucht sind, wird schmerzhaft bewusst. Aufzuzeigen, wie wichtig Sprache und Kommunikation in unserem täglichen Leben sind – auch das gelingt Christina Dalcher. Man merkt zudem, dass die Linguistin für das Thema brennt – nebenbei gibt es viele interessante Informationen zu linguistischem Grundwissen, die mit Sicherheit sehr interessant sind, wenn man nicht (wie ich) im Studium bereits damit zu tun hatte. Teilweise verkommen die Einschübe leider aber auch zu Info-Dumping.

Protagonistin und Figuren (+/-)

Prinzipiell mochte ich die Protagonistin von Anfang an gerne. Sie ist intelligent und lässt sich trotz der schwierigen Zeiten nichts gefallen. Ihre Gedankengänge und Emotionen waren meist glaubwürdig und für mich nachvollziehbar. Ihre Wut auf das System und auch auf die Männer in ihrer Familie, die sich mehr und mehr mit der Unterdrückung der Frauen und den traditionellen Geschlechterrollen anzufreunden scheinen, wurden greifbar und ich habe stark mit ihr mitgefühlt. Mir hat gefallen, dass diese gesellschaftlich nicht akzeptierten Gefühle unverblümt und ehrlich geschildert wurden.

Dann gab es aber auch wieder Momente, in denen ich die Protagonistin nicht verstehen konnte: Als zum Beispiel ein Mensch ums Leben kommt, macht sie nur Minuten später einen absolut geschmacklosen, makabren Witz darüber – aufgrund der Situation und ihren Lebenserfahrungen meiner Meinung nach absolut unglaubwürdig und übertrieben. Ein weiteres Beispiel: Jean betrügt ihren Mann – aber ihre Nachbarin, die dasselbe tut, bezeichnet sie herablassend als „Schla+++“. Da Slut shaming absolut schädliches Verhalten Frauen gegenüber ist, nur dafür gemacht, sie kleinzuhalten, finde ich das absolut unpassend – dafür und für Jeans sexistische Einteilung der Welt in „typisch Frau“ und „typisch Mann“ (wolltest du dagegen nicht eigentlich kämpfen, Jean?) gibt es auch ordentlich Punkteabzug!

Die anderen Figuren bleiben bis auf wenige Ausnahmen meiner Meinung nach seltsam farblos und blass, sie werden mir nicht in Erinnerung bleiben. Es gab (außer Jean) niemanden, mit dem ich wirklich mitgefiebert habe oder der mir ans Herz gewachsen ist – sehr schade! Die Figuren wirken konstruiert, nicht lebendig oder dreidimensional.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Obwohl sich das Buch im Verlauf der Lektüre nicht ganz so entwickelt hat wie erhofft, so gelingt es der Autorin doch immer wieder, Spannung aufzubauen. Auch wenn diese zwischendurch immer wieder kurzzeitig einbricht, wollte ich doch immer wissen, wie es weitergeht. Es gibt zudem einige unerwartete Wendungen, die mich zwar nicht vollends begeistern, aber doch überraschen konnten. Vor allem im letzten Drittel wird die Spannung dann noch einmal ordentlich angehoben. Jedoch – hier stimme ich einigen Kritiker*innen zu - erscheinen sowohl das Hinarbeiten auf den Höhepunkt, als auch das Ende selbst sehr überhastet. Viel zu viel passiert auf einmal, viele Fragen bleiben offen. Es wirkt tatsächlich, als wäre die Autorin unter Zeitdruck geraten und hätte nicht mehr genug Zeit gehabt, die Geschichte zu einem runden, gut ausgestalteten Ende zu führen. Das ist schade, das Buch hätte es eigentlich verdient.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Jeans in ihrem Kopf verfestigte Geschlechterstereotypen und ihre unhinterfragte Misogynie (Nachbarin!) finde ich sehr ärgerlich. Die Protagonistin müsste es nämlich eigentlich besser wissen, wohin solche starren Geschlechterrollen führen können. Dennoch darf hier auch nicht vergessen werden, dass es sich hier prinzipiell um feministische Literatur handelt, die wachrütteln und vor gefährlichen anti-feministischen Strömungen in unserer heutigen Gesellschaft warnen soll. Das ist natürlich ein großer Pluspunkt!

Mein Fazit

„Vox“ ist eine feministische Dystopie, die leider viel Potential verschenkt. Der Schreibstil ist zwar flüssig, aber ästhetisch leider nicht überzeugend und bietet nur wenig Abwechslung. Die meisten Personen bleiben seltsam blass und austauschbar, was es mir unmöglich gemacht hat, mir ihnen mitzufühlen und mitzuleiden. Zur Protagonistin habe ich ein gespaltenes Verhältnis: Die von ihr verinnerlichten Geschlechterstereotypen werden leider nur selten hinterfragt, ihre Gefühle werden dafür aber meist sehr anschaulich und greifbar geschildert. Ihre gelungene, interessante negative Zukunftsvision gestaltet Christina Dalcher nicht ausreichend aus –hier geht die Autorin leider nicht genug in die Tiefe, sondern kratzt nur an der Oberfläche. Der Roman, der immer mehr zu einem Thriller mit mittelprächtiger Liebesgeschichte wird, hat zwar durchaus seine gelungenen, spannenden Momente, wird aber dann zu einem überhastet wirkenden Höhepunkt geführt, der viel zu viele Fragen offen lässt. „Vox“ ist somit ein Buch, das viele gute Ansätze, aber leider auch große Schwächen hat und das mich daher leider enttäuscht hat.
Leseempfehlung: Lieber gleich Margaret Atwoods "Der Report der Magd" / "Handmaid's Tale" lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Schreibstil: 2,5 Sterne
Protagonistin: 3,5 Sterne
(Neben)Figuren: 2 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 2 Sterne
Ende: 1,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Geschlechterrollen: + / -

Insgesamt:

❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 2,5 Lilien!