Rezension

„Vielen Dank für das Leben“ ist kein Wohlfühlbuch, denn man muss damit rechnen, dass es negative Gefühle weckt

Vielen Dank für das Leben - Sibylle Berg

Vielen Dank für das Leben
von Sibylle Berg

„Vielen Dank für das Leben“ ist meiner Meinung nach in unserer Gesellschaft ein wenig gebräuchlicher Satz. Oft verlangen wir Menschen zu viel, wollen zu viel und rennen ein ganzes Leben lang einem unerreichbaren Ziel hinterher. Hält man dann ein Buch in den Händen mit dem Titel: „Vielen Dank für das Leben“, geht man davon aus, wenn man die Autorin Sibylle Berg nicht kennt, dass es hier um schöne Dinge des Lebens geht. Doch es geht hier nicht um schöne Dinge, denn in dem Titel schwingt leichte Ironie mit. 

Toto ist ein besonderer Mensch. Er ist ein im Suff erzeugter Hermaphrodit, im sozialistischen Alltag von 1966 ein Nichts. Kurz nach der Geburt gibt die hoffnungslos mit ihrem Leben und diesem Nichts überforderte, alkoholabhängige Mutter ihn in ein Heim und verlässt ihn für immer. Eigentlich eine glückliche Fügung, aber auch im Heim wird Toto nur abgelehnt und ausgegrenzt. Seine Außenseiterposition in dem sozialistischen Heim - man könnte es eher ein sozialistisches Boot Camp nennen, denn dort werden die Kinder durch Härte zu Marionetten des Regimes geformt- teilt er mit Kasimir, einem sehr stillen und in sich zurückgezogenen Jungen. Freundschaft ist anders, auch wenn es einige stille Momente der Geborgenheit gibt. Eines Tages werden Toto auch diese Momente gestohlen, als seine Erzieherin ihn als billige Arbeitskraft  an einen versoffenen Bauern verschachert. Jeder Mensch hätte wohl spätestens in dieser tristen und freudlosen Umgebung aufgegeben, doch Toto bleibt unberührt von den Schikanen und der Schinderei und entwickelt sich trotzdem zu einem besonderen Menschen. Er fragt nicht nach Gründen, bewegt sich im Hintergrund und nimmt sich selbst nicht so wichtig, bewertet Menschen nicht nach ihren Taten, sondern er beobachtet sie nur still und passt sich jeder neuen Lebenssituation an. Sein Leben wird oft von Zufällen bestimmt und von der Sehnsucht nach Veränderung geleitet, auch an dem Tag, als er einer westdeutschen Gruppe begegnet, die ihn in den Westen schmuggelt. Toto hat nun die Chance, dem für ihn unbegreiflichen Sozialismus zu entfliehen und hofft auf einen Platz für sich in der BRD - dem goldenen Westen- wo der Kapitalismus sozialistische Hoffnungen zerstört.

Sibylle Berg erzählt mit aufwendigen und komplizierten Sätzen, in einer teilweise sehr deprimierenden und ironischen Art, die Geschichte von Toto und zeigt dem Leser viele Brennpunkte des Lebens auf. Berichtet vom Scheitern zweier Gesellschaftssysteme und mahnt während Totos Lebensphasen, dass Liebe und Zuwendung keine Selbstverständlichkeit sind. Viele Menschen, die in diesem Buch beschrieben werden, sind durch ihre Taten abschreckende Beispiele ihrer Spezies. Ihr Lebensstil ist geprägt von Alkoholismus, Prostitution und Unterdrückung. Das Buch bekommt dadurch eine sehr triste und traurige Stimmung.
Sibylle Berg muss eine große Beobachtungsgabe haben, denn sie beleuchtet den Menschen auf der Suche nach neuen Impulsen und dessen chronische Unzufriedenheit. Manchmal schildert sie diese so vernichtend und grausam, dass es mich als Leser regelrecht ekelte. Doch man erkennt immer wieder die Ironie in den Situationen.

Im ersten Kapitel musste ich mich an Sibylle Bergs Schreibstil gewöhnen, denn ihre vollgepackten Sätze ohne Dialoge, bedurften meiner ganzen Konzentration. Aber gerade dieser Stil hat mich sehr neugierig auf das Buch und die Autorin gemacht.

„Vielen Dank für das Leben“ ist kein Wohlfühlbuch, denn man muss damit rechnen, dass es negative Gefühle weckt. Die Autorin provoziert gekonnt und hält dem Leser einen Spiegel vor und zeigt aber keine Lösungsvorschläge auf.
Für mich war es eine ganz neue Erfahrung, ein Buch zu lesen, dass eine sehr negative Stimmung verbreitet und mich trotzdem begeistern konnte.
Ein Gedanke begleitete mich noch sehr lange nachdem ich dieses Buch gelesen hatte: Warum müssen Menschen ihr Selbstwertgefühl aufpolieren, indem sie vermeintlich Schwächere unterdrücken?