Rezension

Vom Ende des Lebens, Erinnerungen, aber auch Märchenhaftes und Utopisches

Hier kommen wir nicht lebend raus -

Hier kommen wir nicht lebend raus
von Margaret Atwood

Bewertet mit 5 Sternen

Das Ehepaar Nell und Tig in verschiedenen Lebensaltern gibt Margaret Atwoods aktueller Kurzgeschichten-Sammlung den Rahmen. Bis auf wenige Überschneidungen mit „Die Kunst des Auftragens“ handelt es sich um bisher nicht in Buchform veröffentlichte Storys. 60 Jahre nach den Ereignissen, an die sich Nell in  der Eingangs-Story erinnert, nehmen Tig und Nell an einem Erste-Hilfe-Kurs für Dozenten auf einem Kreuzfahrtschiff teil. Nicht nur sie selbst fragen sich, wie sie bis ins hohe Alter auf Reisen und ihren Wanderungen in der Wildnis ohne Sofortmaßnahmen auskommen konnten.  In mittleren Jahren waren Nell und Tig mit Kriegserinnerungen ihres Ferienhaus-Vermieters John in Frankreich konfrontiert, die Nell über die Gnade des Vergessens nachdenken und sie bereits das Schwinden der Kräfte im Alter ahnen ließen. Eine weitere Geschichte um das alternde Paar zeigt Tig als Bewahrer der Erinnerungen seines Vaters. Auch „der lustige alte Brigadegeneral“ war Kriegs-Veteran, hatte als Kind schon die Spanische Grippe erlebt und die Hälfte seiner Person „auf der anderen Seite des Atlantiks zurückgelassen“.  Der Tod des Schwiegervaters veranlasst Nell, in der Möglichkeitsform Tigs Tod vorauszudenken.  In „Das Holzkästchen“  werden  Tigs schwindende Kräfte unübersehbar  bis in „Old Babes in the Wood“ Nell mit der erheblich jüngeren Lizzie vermutlich ein letztes Mal in ihre Ferienhütte reist. In ihrem Alter sind sie zwar nicht mehr für die Instandhaltung von Haus und Badesteg verantwortlich,  realisieren jedoch, dass ein banaler Unfall das Ende des Vergnügens bedeuten kann.

Da Atwood stets betonte, unter ihren Vorfahrinnen seien nachweislich Hexen gewesen, konnte mich „Meine böse Mutter“, die Auseinandersetzung einer Mutter mit ihrer 15-Jährigen, besonders erheitern.  „Du bist so böse“, wirft darin die 15-Jährige Icherzählerin ihrer Mutter vor, die berechtigte Einwände gegen den neuen Freund Brian vorbringt. Heute hören wir den Spruch eher von Fünfjährigen, aber so war es eben im Toronto der 50er Jahre. Mit Fortschreiten der Geschichte hält die Tochter es offenbar für immer wahrscheinlicher, dass ihre Mutter tatsächlich über magische Kräfte verfügt. Was sonst sollte man von einer alleinerziehenden Mutter halten, die offenbar keine finanzielle Not leidet und Aussagen über das, was sie gerade im Mixer zusammenrührt, verdächtig oft verweigert.  Bei einem von Atwoods Lieblingsthemen sind ein straffer Spannungsbogen ebenso zu erwarten wie ihr listiger Erzählton. Ich kringele mich allein schon vor Lachen, wenn in ihren Texten das Wort „schnell“ in Zusammenhang mit Kochen und Backen fällt. Ihre 15Jährige Protagonistin bedient meine Erwartung, wenn sie berichtet, dass ihre Mutter gerade ein „schnelles“ Rezept zubereitet. Der Gag geht auf Atwoods Erzählungen über ihre Mutter zurück, deren überlieferte Rezepte offenbar stets begannen mit „Du knetest schnell  …“ (z. B. einen Pie-Teig).

Fazit

„Hier kommen wir nicht lebend raus“ thematisiert zwar deutlich das Altern, zeigt jedoch  Atwoods Themen (stets listig und mit feiner Ironie bearbeitet), die sie durch ihre erstaunliche Karriere begleiteten: Varianten von Wildnis, Märchen und Mythen, Hexen, Feminismus, Utopien, Insider-Spott aus der Literaturszene. Ihre Dystopien und Utopien pflegte Atwood damit zu erklären, dass sie zwar Existierendes und Erlebtes überspitze, die Realität  jedoch absurd genug sei.

Außer dem dominierenden Thema Altern und nahender Tod bietet auch dieser Band Einblick in das außerordentlich produktive Schaffen einer Autorin, das sich durch Freude am Makabren auszeichnet und ungebrochenes Interesse an Geschichte und Naturwissenschaften.  Er triumphiert jedoch auch über jene, die um 1960 die Studentin Atwood belehrten, es gäbe zwar eine englische Literatur, aber keine kanadische, und eine Literaturkritik, die sich damit befasste, ob eine junge Mutter überhaupt feministische Texte schreiben dürfe …