Rezension

Von der Gratwanderung einer Borderlinerin - ein bemerkenswertes Debüt

Das grenzenlose Und - Sandra Weihs

Das grenzenlose Und
von Sandra Weihs

Bewertet mit 4 Sternen

Willi hat einen Deal mit Marie. Er hat sich dafür eingesetzt, dass sie trotz Selbstmordgefährdung wegen ihrer Borderline-Störung nicht stationär in der Psychiatrie behandelt wird, sondern in einer Jugend-Wohngemeinschaft leben darf, für die sie formal als 18-Jährige schon zu alt ist. Maries Anteil an der Vereinbarung: sie nimmt ihre Therapiesitzungen in Willis Praxis wahr und wird sich in dieser Zeit nicht das Leben nehmen, weil Willi sonst seine Zulassung verliert. Marie ritzt sich, zeigt weitere selbstzerstörerische Züge und ist deutlich auf der Suche nach ihrer eigenen Normalität. Wie sie sein muss, damit andere sie mögen und wie diese anderen Personen ticken, ist Marie aufgrund von Vernachlässigung in der Kindheit ein Rätsel.

In Willis Praxis trifft Marie den ein paar Jahre älteren Emmanuel, der an einem unheilbaren Hirntumor erkrankt ist. Auch Emmanuel will sterben, bevor er nicht mehr in der Lage sein wird, selbst über sein Leben zu entscheiden. Als wäre diese Besetzung nicht schon krass genug, liegt auch noch die Mutter von Maris Mitbewohnerin Amina im Sterben. Die Jugendwohngemeinschaft als Kulisse ist in gewohnter Form aufgestellt; die Sozialpädagogen halten sich prinzipiell für die Guten, die abwesenden Eltern der hier betreuten Jugendlichen treten in der Rolle der 'Verantwortungslosen' auf; denn ohne ihre sozialen Defizite wären Jugendliche und angestellte Betreuer nicht hier. Maries Zickzackkurs zwischen erwachsen sein Wollen und dem Bedürfnis nach Betreuung ist für verspätet Pubertierende nicht ungewöhnlich. Doch in Maries Fall ist das Schlingern zwischen Manipulation anderer und Sinnsuche nicht ungefährlich. Vor Maries Vereinnahmung war ich auf der Hut und diese Distanz zu ihrem Schicksal hat mir beim Lesen gutgetan.

Willi hat sich für die therapeutische Marschrichtung entschieden, Marie allmählich vor Augen zu führen, dass sie kein Kind mehr ist und kindliche Manöver nicht mehr nötig hat. Für mich als Leser führte seine Haltung zu der Hoffnung, Maries schwere psychische Störung könnte tatsächlich eine Übergangsphase sein mit der Chance für sie, ihren Reifungsrückstand noch aufzuholen.

Emmanuel plant derweil in allen Details sein Lebensende und konfrontiert Marie mit der Frage, was sie einmal hinterlassen möchte, vielleicht ein Graffiti? Ein faszinierender Wettstreit der Argumente zwischen zwei jungen Menschen entbrennt, die aus verschiedenen Gründen ihrem Leben ein Ende machen wollen. Auch das Rätsel wird schließlich gelöst, welche Bedeutung der Papierflieger auf dem Buchcover für Sandra und Emmanuel haben könnte.

Die Begegnung zweier Jugendlicher, von denen einer unheilbar krank und der andere psychisch krank ist, gab es in der Jugendliteratur bereits in gelungenen und weniger gelungenen Varianten. Ganz im Gegensatz zu manch anderem Text, der Selbstmordpläne Jugendlicher thematisiert, hatte ich in Sandra Weihs Debütroman nie den Eindruck, dass Maries psychische Störung und ihre Selbstmordpläne idealisiert werden oder eine Triggerwirkung auf gefährdete Jugendliche haben könnten. Das Buch spricht jugendliche und erwachsene Leser auf sehr persönlicher Ebene an, je nachdem ob man sich mit einer der Personen identifizieren kann. Selbstironisch dem eigenen Berufsstand und seinen professionellen Worthülsen gegenüber schreibt hier spürbar jemand aus Erfahrung mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. Als Debüt hat mich Sandra Weihs Buch sehr beeindruckt!