Rezension

Von Leichtigkeit keine Spur...

Schwindende Schatten - Antonio Muñoz Molina

Schwindende Schatten
von Antonio Muñoz Molina

Bewertet mit 2 Sternen

In Lissabon, einer der schönsten Städte der Welt, kreuzen sich zwei Lebenswege: James Earl Ray, der als Attentäter von Martin Luther King Schlagzeilen machte, ist auf der Flucht vor der Polizei. Und der passionierte Spaziergänger Antonio Muñoz Molina, der dreißig Jahre später dort an einem seiner wichtigsten Romane arbeitet, auf der Suche nach sich selbst und seinem Schreiben. Die Stadt am Atlantik wird zum Umschlagplatz von Leben, Geschichte und Literatur.

Durchzogen von der vibrierenden Atmosphäre Lissabons und klugen Reflexionen über das Schreiben, klingt »Schwindende Schatten« wie ein guter Jazzsong, wie eine Mischung aus absoluter Kontrolle und Improvisation, aus Leichtigkeit und Tiefe.
Verspricht dieser Klappentext nicht ein ganz besonderes Leseerlebnis? Zumal dieser Roman 2018 für den Man Booker International Prize nominiert war, zeitgenössische Literatur, komponiert wie ein Jazzsong - was würde mich da erwarten?

"Ich liebte den Jazz (...) Ich liebte die Musik als solche und auch als ethisches und ästhetisches Modell für das Verfassen von Literatur, ihre Mischung aus Disziplin und Hingabe, aus virtuosem technischem Können und absoluter Kontrolle, aus gleichermaßen Improvisation und Verzückung, Leichtigkeit und Tiefe, Tempo und Verzögerung. So sollte das klingen, was ich schrieb, mit mächtigem Anfangsschub und ohne zu wissen, wohin es ging, manchmal gradlinig und andere Male auf Umwegen, auf denen ich mich zu verlaufen drohte und dann doch unerwartete Schätze fand." (S. 95)

Es fängt schon damit an, dass es mir schwerfällt zu schildern, worum es in diesem Roman eigentlich geht. Denn hier wird nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern wenigstens zwei verschiedene, nebeneinandergestellt, abwechselnd in getrennten Kapiteln, ohne wirklichen Bezug zueinander, lediglich die portugisische Stadt Lissabon als verbindendes Glied.

Dort war James Earl Ray 1968 für einige Tage, Station seiner Flucht, nachdem er Martin Luther King ermordet hatte. Antonio Muñoz Molina spürt den Spuren der Vergangenheit nach, beschwört das Lissabon vergangener Tage herauf, erzählt dabei - durchaus nicht stringent und chronologisch - Begebenheiten aus dem Leben des berühmten Mörders, schält einen Charakter aus den Schatten der Vergangenheit heraus, der dennoch wenig greifbar bleibt. Blass wie sein Gesicht, bleibt auch Ray als Figur, der sich unter vielen falschen Namen versucht unsichtbar zu machen.

Dreißig Jahre später war Antonio Muñoz Molina selbst das erste Mal in Lissabon, für drei Tage, die er exzessiv auskostete, um möglichst viele Eindrücke für seinen damaligen Roman zu sammeln. Später folgten weitere Besuche, und stets waren es diese Besuche, die ihn aus dem Alltag katapultierten und gleichzeitig ein Stück weiter zu sich hin führten, zu dem, was er wirklich sein wollte.

"Unter seiner stillen Oberfläche bestand mein Dasein aus einer wahllosen Aneinanderreihung bruchstückhafter Leben, einem Nichtausleben frustrierter Sehnsüchte, aus verstreuten Teilen, die nicht zusammenpassten. Das meiste von dem, was ich tat, berührte mich nicht. Was ich in meinem Innern war und was mir wirklich etwas bedeutete, blieb einem Großteil der Menschen um mich herum verborgen..." (S. 42)

Wenn ich jetzt Sätze wie dieses Zitat lese, ist die Faszination für das Schreiben des Autors wieder greifbar, die ich zwischenzeitlich durchaus verspürt habe. Molina zählt sicher nicht ohne Grund zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Spanies, Träger vieler Auszeichnungen. Und den Sätzen des Romans ist anzumerken, wie sorgfältig an ihnen gefeilt wurde. Leider sorgten viele andere Faktoren dann dafür, dass diese Faszination bei mir zunehmend verloren ging und einer allumfassenden Langeweile Platz machte.
Was man Molina zugute halten muss, ist seine akribische Recherche - zu allem und jedem. Jedes Detail von Interesse wurde im Vorfeld ausgiebig von ihm beleuchtet - und dann ebenso großzügig im Roman positioniert, Themen, die wie Gedankensprünge daherkommen, oftmals ohne Verbindung zur eigentlichen Erzählung, einfach weil es dem Autor gerade in den Sinn kam.

"Der Roman entsteht aus allem, was ich weiß, aus allem, was ich nicht weiß, und aus dem Gefühl, mich voranzutasten, ohne je einen exakten erzählerischen Rahmen zu finden, weil eine Geschichte statt zu einem Schluss zur nächsten führt, immer wieder neue Verbindungen herstellt, genau wie die Synapsen unseres Gehirns es tun." (S. 500)

Solcherlei Informationen finden sich nicht etwa im Nachwort, sondern sind Teil des Romans - nicht nur das Leben des Autors, seine Begegnungen, Erkenntnisse, Empfindungen finden hier einen Platz, sondern auch Einblicke in das Entstehen eines Romans, wie Molina ihn schreibt. Das mag für manchen Leser von Interesse sein - mich ödete diese für mich immer mehr zur Nabelschau geratende Selbstdarstellung zunehmend an.

Bleibt die Erzählung um James Earl Ray, den mutmaßlichen Mörder Martin Luther Kings, gejagt von hunderten von FBI-Beamten. Anfangs fand ich diese Passagen durchaus interessant, doch erging sich die Schilderung der Tage in Lissabon in endlosen Wiederholungen ähnlicher Handlungen und Verhaltensweisen, wobei die Figur selbst schemenhaft bleibt, die Schilderugen oftmals unwirklich wie im Traum, die vergehende Zeit ein zähfließendes oder langsam tröpfelndes Konstrukt.

Langeweile also hinsichtlich beider Handlungsstränge, verstärkt noch durch stilistische Mittel wie endlosen Aufzählungen oder Schachtelsatzgebilden von zig Zeilen oder gar einer ganzen (eng bedruckten) Seite. So gibt es beispielsweise zwei ganze Seiten von wahllos anmutenden Auflistungen von Werbeanzeigen der sechziger Jahre (S. 256 ff.) oder gar sechs fast absatzlose Seiten darüber, wo James Earl Ray auf seiner Flucht überall gesehen wurde, was er dabei trug, wie er aussah, welches Fahrzeug er fuhr... (ab S. 206).  Füllmaterial für den Roman - das war noch das Schmeichelhafteste, was mir dazu einfiel.

"Alle waren - das wusste er zu seiner eigenen Schande am besten - aus hinfälligem Material gemacht, aus dem Lehm und dem Staub der Erde, einer zerbrechlichen Legierung aus Gold und dem Ton des Töpfers, wie die Statue aus dem Traum des Königs Nebukadnezar, edelmütig und niederträchtig zugleich, heute Helden und am Tag darauf feige, habsüchtig oder unzüchtig, nach außen bescheiden und innerlich überheblich, von gerechtem Eifer und vom Zorn gegen Unrecht besessene Propheten, Komödianten oder Schauspieler, die eine Menge begeistern und zugleich innerlich unbeteiligt sein können, sich mit einem Seitenblick in den Spiegel vergewissern, das die beabsichtigte Geste gelungen ist, heimliche Ungläubige, nicht weil ihnen der Glaube abhandengekommen ist, sondern wegen der schieren Wiederholung der immer gleichen Worte, so wahr und so notwendig sie auch sein mochten, wegen der rhetorischen Effekte, die nie ihre Wirkung verfehlten, der tausend Mal erzählten Witze und der ganzen Routine, die die Nächsten in seiner Umgebung schon erwarten und voraussagen können, resigniert, zynisch, gelangweilt, Wort für Wort und Nacht für Nacht, manchmal gar mehrmals am Tag, wie die Helfer und Techniker, die einen Kandidaten im Wahlkampf umschwirren, ihn auf Reisen begleiten, aus nächster Nähe beobachten können und schließlich als peinliche Parodie erleben, eine fuchtelnde, von hysterischer Energie getriebene Marionette, gepudert und geschminkt für die Fernsehkameras, schweißgebadet im heißen Licht der Scheinwerfer." (S. 457 f.)

Ein (!) Satz! Anstrengend? Eben!

Bis zum Schluss blieb mir die Antwort darauf verwehrt, weshalb diese zwei Geschichten nebeneinander erzählt wurden. Gab der Stoff um den Mörder Martin Luther Kings alleine nicht genug her für einen Roman? Fürchtete der Autor, dass der autobiografische Anteil keine ausreichende Leserschaft finden würde?

Für mich war es so jedenfalls nichts Halbes und nichts Ganzes. Der Einblick in die Geschichte von James Earl Ray war durchaus interessant - hätte ich nicht die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass der Autor versucht, der Figur seine Idee davon aufzudrücken, wie diese sich gefühlt und was sie gedacht haben mag, und damit die Authentizität gleich wieder zu verwischen.

Als Fazit bleibt eine bleierne Müdigkeit, eine große Erleichterung, den Roman endlich zuschlagen zu können, ein Gefühl vertaner Zeit. Das ist sehr schade, denn das schriftstellerische Können, das ich durchaus registriert habe, ging so für mich gnadenlos unter.

© Parden