Rezension

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Von Leoparden und Antilopen...

Marylin - Arthur Rundt

Marylin
von Arthur Rundt

Wer schon einmal in einer Tierdokumentation einen Leoparden beim Jagen in der Kalahari beobachtet hat, kann nicht anders als beeindruckt sein von seinem eleganten,  geduldigen, uns „planvollen“ erscheinendem Jagdverhalten, der Hetzjagd.

Wie er  sich von ihr unbemerkt an eine zarte, feingliedrige Antilope heranpirscht, die ersten Meter im Trab, dann aber, um so näher er seiner potentiellen Beute kommt, sich weg duckt, sich unsichtbar macht, mit seiner Umgebung verschmilzt. Wie er geschickt versucht, so nah wie möglich an sein wehrloses Opfer heran zu kommen, weil nur das gewährleistet, dass es angststarr nicht mehr rechtzeitig vor ihm fliehen kann. Von ihm gestellt, rast ihr Herz, pumpt das Blut schneller durch die Venen. Von ihm überwältigt ist sie endlich seins.

In dem von Arthur Rundt 1928 erstmals in der Wiener Wochenzeitschrift „Neue freie Presse“ als Fortsetzungsgeschichte publiziertem Roman „Marylin“ benutzt Philip, ein junger, aufstrebender, angestellter Architekt mit 40 Dollar Lohn täglich die Hochbahn, um zu seinem Arbeitsplatz im Centrum von Chicago zu kommen. Er und Tausende mit ihm. In dieser Menschenmasse, die morgens wie abends, eingepfercht, dicht an dicht, zwischen Büro und Bettstatt pendelt, bleibt sein Blickt eines Tages an einer jungen Frau hängen. Sie ist vom Aussehen eigentlich recht unscheinbar, könnte leicht in der Menge verschwinden, wären da nicht „diese zarten Kinderarme, die aus den behutsam wiegenden Schultern hin- und herpendelten“, die Philips Interesse wecken.

Diese zarten, proportional zum Körper langen Arme wirken wie ein Trigger, er kann seinen Blick nicht abwenden, bekommt das Bild nicht aus dem Kopf. Er sucht jetzt täglich im Heer der Massen nach ihr. Als er sie irgendwann entdeckt, will er sie, von der er weiß, das sie die Eine ist, nicht mehr verlieren und nimmt die Fährte auf. Er verharrt im Zug, als dieser seine Haltestelle anfährt, folgt ihr unauffällig als sie an ihrer aussteigt und durch die Straßen ihres Stadtteils schlendert, schlüpft kurz hinter ihr in das Café, in dem sie regelmäßig einen Milkshake trinkt, beobachtet sie heimlich, nur ein paar Tische von ihr entfernt, hält nur wenige Meter Abstand auf ihrem Weg zu dem kleinen Hotel, in dem sie ein Zimmer gemietet hat. Von nun an wiederholt er dies Tag für Tag. In seinen Träumen sind sie schon ein Paar, bevor er sie irgendwann wortlos im Abteil grüßt, bevor er ihr auf der Straße einen guten Tag wünscht, bevor sie übers Wetter sprechen, bevor er ihr seine Begleitung anbietet, bevor sie Angst bekommt.

Marylin arbeitet in einem Verkaufsbüreau einer Seidenstrumpffabrik, sie ist fleißig, eine geschätzte Mitarbeiterin, verdient 25 Dollar. Aber sie muss fliehen, sie nimmt ihre Ersparnisse, ihren Koffer, ihre persönlichen Papiere. Sie flieht. Sie flieht nach Cleveland, Philip folgt ihr, flieht nach New York, Philip heftet sich an ihre Fersen.  Sie ist seine Obsession. Sie ist die Frau, die er einmal heiraten will, die zukünftige Mutter seiner Kinder. Er kennt sie nicht, aber er will sie.

Marylin ist müde, zu müde weiter vor ihm zu fliehen, vielleicht zu müde sich ihm und seiner Bitte weiter entgegenzustellen, zu kämpfen. Vielleicht ist sie es auch leid alleine zu sein in der ihr fremden Welt, vielleicht will sie auch glauben, dass alles gut wird.

Die nächsten Monate entsprechen die beiden am ehesten dem Klischee eines frisch verheirateten Paares, doch die meiste Zeit wirkt Marylin wie ein angstvolles Tier in der Falle, unruhig, nervös, aufs höchste angespannt, als wüsste, dass das kein gutes Ende nimmt. Doch noch ist es nicht so weit. Gemeinsamen mit Freunden genießen sie das Großstadtleben der weißen Mittelschichtler. Sie gehen aus in die angesagten Jazzkneipen, Swing Clubs und zu den populären Boxfights der Schwarzen.  Sie machen sogar die Bekanntschaft eines bekannten, schwarzen Kämpfers, den sein weißer Kontrahent ob seiner langen Arme als „Affe“ bezeichnet, den sie aber trotzdem, fast stolz auf ihre unkonventionelle Tat, zu sich einladen. Denn es gilt, wenn Schwarze nicht über besondere Talente zum Amusement verfügen,  sind sie lediglich geduldet, auf Zeit und nach den Bedingungen der Weißen. Sonst taugen sie nur zum eigentlich unsichtbaren, devot freundlichem Portier oder Fahrstuhlführer. Die amerikanischen Gesetze und der common sense regeln, dass alle besser in ihrer eigenen, angestammten Welt bleiben sollen, damit nichts zusammen kommt, was nicht zusammen gehört.

Marylin wird schwanger, Philip freut sich. Alle freuen sich für sie beide, nur Marylin ist starr vor Schreck und zählt die Tage bis endlich alles vorbei ist. Philip ist auf Geschäftsreise als Marylin ihre Tochter entbindet. Als Phillip sie das erste Mal sieht, mag er seinen Augen nicht trauen. Das Kind ist schwarz. Das ist nicht sein Kind und Marylin nicht mehr seine Frau. Sie ist eine Ehebrecherin, hat sich der sprichwörtlichen Virilität eines Schwarzen hin gegeben. Marylin wirkt trotz der falschen Anschuldigungen unendlich erleichtert, wehrt sich nicht, stellt nichts klar.

Philip hinterfragt nichts, ist außer sich, ob des Betrugs. Es kommt zur Scheidung. Marylin flieht erneut, diesmal mit ihrer Tochter, zu Verwandten ihrer Mutter, in die Karibik. Diesmal folgt er ihr nicht, die Wut über den Verrat hält ihn. Erst als er die Wahrheit, als er von Marylins schwarzer Mutter erfährt, nicht mehr seine „weiße Frau“ ihn mit einem Schwarzen betrogen hat, sondern er nur Sex mit einer Schwarzen hatte, nimmt er den Faden wieder auf und kommt zu spät.

Aus Arthur Rundt, ein heute vergessener Autor, damals ein bekannter Theatermann, Journalist und Reiseautor „Amerika ist anders“ spricht eine Begeisterung für das moderne Amerika der technischen Errungenschaften, für seine Wolkenkratzer und Kühlschränke, ist dabei aber auch nicht blind für Teilung der Gesellschaft in schwarz und weiß, für die juristisch festgelegte Segregation der Bevölkerung.

Sein Roman wird der stilistisch schnörkellosen Neuen Sachlichkeit zugerechnet. Der Erzähler schildert das Geschehen in großen Teilen eher journalistisch, als teilnehmender Beobachter von außen. Die Helden, Philip und Marylin, können nur an ihren Taten gemessen werden, ihre Beweggründe bleiben unbekannt. Das mag einige Leser irritieren, da wir es seit „Freud für alle“ gewohnt sind, dass jeder seine Befindlichkeiten wie ein Banner weit sichtbar vor sich her schwingt.

Für mich gilt trotzdem, so wie ich beim Ansehen der Filmdokumentation die Angst der Antilope spüre, so hat sich beim Lesens des Romans von Seite zu Seite  Marylins Angst, das Gefühl ausgeliefert zu sein, auf mich übertragen.