Rezension

Von Paaren und Übergängen zu fremden Lebenswelten

In den Wäldern des menschlichen Herzens - Antje Rávic Strubel

In den Wäldern des menschlichen Herzens
von Antje Rávic Strubel

Bewertet mit 4.5 Sternen

Katja und René aus Berlin sind auf einer organisierten Kanutour unterwegs auf dem Stora Le in Schweden. Außer ihren Betreuern und anderen Kanuten treffen die Urlauber unterwegs keine anderen Menschen. Das Flussufer bildet die Grenze zu einer Wildnis, in der Mückenschwärme lauern und Elche unterwegs sind. Katja schreibt an ihrem ersten Buch und sucht eine letzte Atempause, ehe der Alltag sie wieder fordern wird. Ein anderes Paar muss sich in Schweden mit seinen Klischeevorstellungen über die Sámi und deren inszenierte Lebensrealität auseinandersetzen. Beide erfahren, dass eine teure Ausrüstung sie nicht vor Naturkräften schützen kann. Sara und Norman bieten in der ostdeutschen Provinz Yogaworkshops mit Wellness-Versprechen an. Im Sequoia National Park der USA verbringen die Studenten Emily und Leigh ein paar Ferientage. Leigh hat sich erst vor kurzem für eine männliche Identität entschieden und ist sich noch unsicher, wie andere Menschen reagieren werden. Erstaunlicherweise erkennt nur Faye, die bisher selten außerhalb von Städten gewesen ist, Katastrophenzeichen von Erosion und schwindendem Lebensraum für Mensch und Tier.

In Episoden sieht sich eine Vielzahl von Paaren und Teams in komplexem Beziehungsgefüge und wechselnder Zusammensetzung mit einer beunruhigenden 'Wildnis' konfrontiert, den Übergängen zu fremden Lebenswelten. Mehrere der Paare sind Frauen-Paare. Ein kurzfristiger Aufenthalt im Zelt oder in einer Berghütte konzentriert auf Lebenswichtiges, lässt in Beziehungen Konflikte eskalieren, entlarvt dabei bisher verborgene Eigenschaften. Meine Wildnis-Interpretation steht hier für eine manchem Stadtbewohner fremde Natur, für die Abwesenheit von Normen, erst zu findende Geschlechterrollen oder fehlenden Schutz vor Gewalt. Übergange zeigen sich in wechselnden Paarzusammensetzungen, in der sexuellen Orientierung, zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder vom Text zur Übersetzung. Übergänge werden auch geleugnet, z. B. wird in einem Szenario die reale Gefahr radioaktiver Kontamination manierlich hinter einer Mauer verborgen. Auch eine Insel als Traum- und Fluchtziel kann für den erweiterten Wildnis-Begriff stehen. Der Roman ist nach Auskunft der Autorin Abschluss einer Reihe ( Kältere Schichten der Luft , Sturz der Tage in die Nacht ), die das menschliche Begehren thematisiert.

Episodenromane setzen m. A. allein durch die Form bei ihren Lesern ein großes Maß an Geduld voraus. Für die vielen Personennamen brauche ich immer einen Notizzettel. Durch eine "Wildnis" der Unbilden komplizierter Paarungen und in Grenzbereiche unserer Zivilisation führt Antje Rávic Strubel hier in präziser, entlarvender Sprache.