Rezension

War es falsch…?

Schwarzes Eis - Sergej Lochthofen

Schwarzes Eis
von Sergej Lochthofen

Bewertet mit 5 Sternen

»Unter anderen Umständen hätte Lorenz die Geschichte brennend interessiert. Aber jetzt hörte er die Wortfetzen wie durch einen Nebelschleier, weit in der Ferne. Er saß auf dem Boden mit dem Rücken zur Wand und dachte nach. War das alles falsch? War es falsch, Deutschland zu verlassen? War es falsch, nach Russland zu gehen? War es falsch zu studieren? Journalist zu werden? Hierzubleiben?«

Ein Mann und seine Überzeugung. Lorenz Lochthofen wurde 1907 im Ruhrgebiet als Kind eines Bergmanns geboren. Schon früh engagierte er sich in kommunistischen Organisationen, was dazu führte, dass er 1930 vor der SA fliehen musste. Seiner Überzeugung folgend emigrierte er in die Sowjetunion, wo er 1937 eines der vielen unschuldigen Opfer der Säuberungsaktionen unter Stalin wurde. Nach über 20 Jahren in Sibirien konnte er 1958 mit seiner Frau und den beiden Söhnen in die DDR ausreisen. Immer noch war da seine Überzeugung, die ihn dazu trieb, im Arbeiter-und-Bauern-Staat anzupacken, aktiv mitzuarbeiten, das Land voranzubringen. Tatsächlich konnte er so einiges bewirken und arbeitete sich innerhalb weniger Jahre vom Schlosser bis zum Werksleiter hoch. Er schaffte es sogar, Mitglied des Zentralkomitees der SED zu werden, bevor ihn 1967 ein schwerer Herzinfarkt letztlich doch ausbremste.

 

Dieses Buch erzählt seine Geschichte, aufgezeichnet von seinem Sohn Sergej. Über Jahre hinweg hat dieser die Erzählungen seines Vaters gesammelt und um eigene Erlebnisse (Sergej wurde 1953 in Workuta geboren) ergänzt. In chronologischer Reihenfolge, beginnend 1937, kann der Leser diese Geschichte mitverfolgen. Zu Beginn jedes neuen Jahres werden kurz wichtige politische oder andere historisch interessante Daten bzw. Fakten erwähnt und zudem gibt es Fotos, beispielsweise aus Workuta, Abbildungen von Originalbriefen und ähnliches, was zur Handlung im jeweiligen Zeitabschnitt passt.

 

Ein großer Teil des Buchs betrifft – wie man sich denken kann – die über 20 Jahre, die Lorenz Lochthofen in Sibirien verbringen musste. Zunächst im Arbeitslager Workuta, später zwar „frei“, was aber nur bedeutete, dass er außerhalb des Stacheldrahts leben konnte, Sibirien aber nicht verlassen durfte. Die Schilderungen der dortigen Zustände sind sehr drastisch und man fragt sich ständig, wie es Menschen schaffen konnten, so etwas zu überleben. Das Leben im Lager wird detailliert geschildert, Not, Kälte und die Schwerkriminalität einiger Gefangener sorgten dafür, dass manche Neuankömmlinge nicht mal die ersten Tage überstanden. Auch Lorenz muss Fürchterliches durchmachen, neben einem ungebrochenen Lebenswillen half ihm immer wieder auch Glück.

 

»So ging das Leben weiter. Neues kam dazu – all den finsteren Prophezeiungen zum Trotz. Wie viele hatten sich zu früh aufgegeben. Wie viele waren nicht nur an der völligen körperlichen Auszehrung, sondern am Erlöschen ihres Willens zerbrochen. Lorenz wollte nicht nur überleben. Er wollte es ihnen allen zeigen. Den Nazis, dem NKWD, allen, die immer und immer wieder danach trachteten, ihn in den Dreck zu drücken, ihn zu zerstören. Ein Kind, eine Frau, eine Familie: ein deutlicheres Zeichen seines Widerstandes gegen all den Hass, die Gewalt, den Verrat konnte es nicht geben.«

 

Auch die Zeit nach Workuta, in der DDR, ist sehr spannend. Ich war total fasziniert, wieviel Energie immer noch in diesem Mann steckte! Mit Kritik an „denen da oben“, an Führungspersonen aus Politik, Partei und Wirtschaft, wird nicht gespart, Lorenz Lochthofen war immer ein Mensch, der sich für „den kleinen Mann“ einsetzte, selbst, wenn er dabei über seine eigenen Kräfte ging. Er war mir sehr sympathisch!

 

»Weißt du, die Menschen sind seltsam. Die Deutschen vor allem. Hat sich im Krieg ein deutscher Soldat mit der Panzerfaust einem T34 in den Weg gestellt und den abgeschossen, dann gilt so ein „Panzerknacker“ bis auf den Tag als Held. Obwohl auch er genau wusste, dass er dabei draufgehen konnte. Und obwohl er im Auftrag von Verbrechern handelte und für eine sinnlose Sache sein Leben riskierte. Wenn sich aber jemand für eine gerechtere Welt einsetzt, dafür, dass Tausende Menschen anständig arbeiten und davon gut leben können, gilt der als verrückter Romantiker. Irgendetwas stimmt da nicht.«

 

Fazit: Viele Fakten und ein harter Stoff, aber die Art, in der er erzählt wird, fesselte mich förmlich ans Buch. Kein bisschen trocken und immer ganz nah dran an den Menschen: So liest sich ein Sachbuch wie ein Thriller.

 

»War es falsch, nach Deutschland zurückzukehren? War es falsch, als Schlosser nach Gotha zu gehen? War es falsch, das Werk zu übernehmen? Falsch, alles auf eine Karte zu setzen? Falsch, sich nicht zu schonen?

Nein. Er würde es so und nicht anders wieder tun.«