Rezension

Warten auf den Zyklon...

Der Kartograf des Vergessens -

Der Kartograf des Vergessens
von Mia Couto

Bewertet mit 4 Sternen

Eine vielschichtige, vielstimmige Erzählung um die Geschichte und die Geschichten Mosambiks - beeindruckend, verwirrend, faszinierend...

Der Dichter Diogo Santiago kehrt in seine Heimatstadt Beira zurück. Alle verehren ihn, doch als er Einsicht erhält in alte Akten der Geheimpolizei, gerät seine Welt ins Wanken. Während der Zyklon Idai drohend über Beira aufzieht, stürzen neue Wahrheiten auf ihn ein. Sein Vater, auch ein Poet, versuchte, im Geheimen die Verbrechen der Kolonialtruppen zu dokumentieren. Sein Cousin, der eines Tages plötzlich verschwand, war nie der, für den ihn alle hielten. Und was steckt hinter der tragischen Legende des schwarzen Jungen und des weißen Mädchens, die den Tod wählten, weil ihre Liebe verboten war? Die junge Frau, mit der sich Diogo rätselhaft verbunden fühlt, scheint Teil dieser Geschichten zu sein. Gemeinsam gehen sie auf die Suche nach Antworten, die unter dem Tosen des hereinbrechenden Sturms alle Gewissheiten vernichten. (Verlagsbeschreibung)

Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Roman gelesen zu haben, der in Mosambik spielt - im Grunde wusste ich vor der Lektüre dieses Romans gar nichts über das Land, außer dass es in Afrika liegt. Mia Couto gewährt einen Einblick in die Geschichte des Landes, wobei schnell klar wird, dass es aufgrund der Unruhen während der geschilderten Zeitspanne mehr als nur eine Wahrheit gibt.

Im Wesentlichen spielt der Roman auf zwei Zeitebenen - in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts sowie 2019, als die Ankunft des Zyklon Idai bevorstand. 2019 wird aus der Ich-Perspektive des Dichters Diogo Santiago erzählt, der an einer Depression erkrankt ist und nun in seine Heimatstadt Beira zurückkehrt, um nach seinen Wurzeln zu suchen. Ihm zu Ehren findet in Beira eine Gala statt, und die junge Liana Campos führt durch den Abend. Später offenbart sie Santiago, dass sie wie er auf Spurensuche ist. Sie möchte herausfinden, was seinerzeit mit ihrer Mutter geschah, und sie glaubt, dass Diogo und sie sich gegenseitig bei ihrer Suche unterstützen könnten. Dann lässt sie ihm Dokumente zukommen, an die ihr Großvater irgendwie gelangt ist - und diese bringen allmählich Licht ins Dunkel.

 

„Manche mussten vergessen können, was geschah, um Zukunft zu ermöglichen.“ (S. 7)

 

In Mosambik, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie, herrschte in den 70er Jahren eine große Zeit der Unruhe. Diogos Vater Adriano, ebenfalls Dichter, sollte und wollte all die Gräueltaten dokumentieren, die dort an der Tagesordnung waren. Und in diese Vergangenheit taucht der Leser / die Leserin nun ein, mittels eines Webstücks aus amtlichen Dokumenten, Briefen, Tagebucheinträgen, Verhörprotokollen sowie den Aussagen noch lebender Zeitzeugen - aber auch durchsetzt mit Poesie, Träumen, surrealen Anteilen. Aus all dem entsteht ein Bild, das jedoch ohne feste Konturen bleibt, mit unscharfen Kanten und leeren Flecken, mal in der einen, dann wieder in einer anderen Farbe schillernd. Denn jeder hat seine eigene Wahrheit, seine eigene Möglichkeit, sich die Vergangenheit schön zu reden, Schuld von sich zu weisen, um die Gegenwart erträglicher zu machen. Die Absurdität von Krieg jedwelcher Art trieft hier jedenfalls phasenweise nahezu aus jeder Zeile.

Ein beeindruckender Roman, in der Tat. Couto vermischt hier so viele Erzählebenen, dass man sich im Netz verfängt - Vergangenheit und Gegenwart, viele Versionen von Wahrheit, europäische und afrikanische Denkarten und Traditionen, Realität und Surrealismus, Tod und Leben, Erinnern und Vergessen, Macht und Ohnmacht, Verbrechen und Verzeihen, und immer wieder auch - bezogen auf verschiedene Charaktere: wer wäre ich eigentlich gerne. Mich hat der Roman beeindruckt, verwirrt, fasziniert. Zwischendurch etwas verloren, dann wieder gewonnen.

Ein wirklich sehr eigenwillig komponierter Roman, geschickt arrangiert, soghaft. Hier wird festgehalten, was alles vergessen wude oder vergessen werden sollte. Und doch ist dies ein Roman gegen das Vergessen. Zurecht. Wie sonst sollte es möglich sein, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen?

 

© Parden