Rezension

Was bleibt von der Liebe?

Bevor wir uns vergessen -

Bevor wir uns vergessen
von Eliette Abécassis

Bewertet mit 3 Sternen

Meine Großeltern hatten das Glück noch gemeinsam ihre Diamantene Hochzeit zu feiern. 60 Jahre miteinander verheiratet. Durch dick und dünn gegangen, harte Zeiten erlebt, gute Jahre gehabt. Ob sie wirklich glücklich miteinander waren, vermag ich nicht zu sagen. Sie sind in einer Zeit aufgewachsen, in der es nicht üblich war, sich seine Zuneigung vor anderen zu zeigen, nicht mal innerhalb der Familie. Ich glaube, mein Opa hätte sich kein anderes Leben vorstellen können. Bei meiner Oma bin ich mir nicht sicher. Sie ist hinter ihren Möglichkeiten geblieben. Als Mädchen zählten ihre Wünsche in der Familie nicht viel und auch als Ehefrau und Mutter hatte sie sich allzu oft nach den anderen richten müssen. Éliette Abécassis‘ Protagonistin Alice wirkt da trotz ähnlichem Geburtsjahr auf mich da viel fortschrittlicher und selbstbestimmter. Aber sie ist auch in Paris groß geworden und musste viel schneller auf eigenen Beinen stehen, als ihr lieb war. Sie studierte, arbeitete als Journalistin und konnte durch ihren Job ein wenig die Welt bereisen. Mit Jules hat sie das große Los gezogen. Ein Mann, der sie auf Händen trägt. Die große Liebe. Die große Liebe? Abécassis erzählt diese Liebesgeschichte chronologisch vom Ende her und arbeitet sich langsam bis zum Anfang vor. In 14 Kapiteln greift sie Momente aus dem gemeinsamen Leben der beiden heraus. Verschiedene Zeiten, verschiedene Erzählperspektiven formen allmählich ein Bild der beiden Liebenden. Sie setzt sie ins Verhältnis zur jeweiligen Zeit, verknüpft private Momentaufnahmen mit historischen Ereignissen, offenbart Probleme in der Ehe, verschweigt auch das Unglücklichsein nicht. Erst ganz zum Schluss offenbaren sich die Traumata, mit denen beide Figuren seit frühester Kindheit durchs Leben gehen und setzen die Begegnung mit all den Entscheidungen danach in ein ganz neues Licht.

Die Geschichte lebt von der rückwärts erzählten Chronologie. Abécassis erfindet keine neuen Probleme und Schwierigkeiten, sie erzählt vom gängigen Dilemma innerhalb einer Jahrzehnte währenden Beziehung, vor der auch die große Liebe nicht gefeit ist. Doch das Erzählen von hinten nach vorn beleuchtet die Beziehung auf eine neue Art. Ich erlebe mich als Leser irgendwie bewusster, weil ich merke wieviel ich beim Lesen interpretiere und wie oft ich dabei fehl liege. Dazu steuert eine Liebesgeschichte vom Ende her erzählt unweigerlich auf die große Magie des Kennenlernens hin. Durch die vielen kleinen und großen Enttäuschungen hat man sich durchgearbeitet und beendet das Buch mit dem ersten Blick bzw. dem ersten Brief. Das hat durchaus seinen Reiz. Dennoch bin ich Alice und Jules nicht so recht nah gekommen. Sie bleiben für mich durchgängig auf Distanz, Jules noch mehr als Alice. Ich erlebe sie nicht als Einheit, erfasse aber auch ihre jeweilige Persönlichkeit nicht ganz. Vielleicht ist das gewollt von der Autorin, ich wäre allerdings gern ein wenig dichter dran gewesen.