Rezension

Was ist Traum und was ist echt?

Auf der Zunge -

Auf der Zunge
von Jennifer Clement

Bewertet mit 4 Sternen

Es ist ein Apriltag in New York, an dem eine Bibliothekarin ziellos durch die Stadt streift. Sie begegnet zahlreichen Männer, die sich durch ihre Berufung auszeichnen, wie ein Soldat, der seine Erfahrungen teilt und dem Zufall große Bedeutung beimisst, ein Polizist, der seine Bedenken äußert oder ein Dichter, der ihre Leidenschaft teilt. All diese meist männlichen Bekanntschaften hinterlassen Spuren, Erinnerungsstücke, Versprechen und zurück bleibt eine nachdenkliche Frau, die weiterzieht. Es sind Begegnungen wie aus einem Traum, Männer, die ihr Beachtung schenken, einfühlsam sind und auf sie eingehen - ihren Sehnsüchten und dem Wunsch nach körperlicher Intimität entspringen. 
Was sie beobachtet weckt Erinnerungen, wie an ihre Urgroßmutter Annie oder „wie sie zum ersten Mal leise gelesen hat und in dem Moment ihren Verstand als Teil ihres Körpers Begriff“. Was sie fast alle gemeinsam haben, ist eine ungewöhnliche Vertrautheit, ein Mitteilungsbedürfnis und eine geheimnisvoll poetische Ausdrucksweise. 

Die Autorin Jennifer Clement beobachtet genau die Umgebung und lässt ihre namenlose Protagonistin mit allen Sinnen ihre Umwelt wahrnehmen. Sie schaut an den Häusern empor, hört leises Heulen in der Ferne, spürt die kühle Brise auf der Haut, die durch die Straßen weht, riecht den Geruch von Papier, Leinen und Tinte, und schmeckt verbrannten Zucker und verbrannte Liebesäpfel. Diese Form der Achtsamkeit überträgt sich beim Lesen und hat einen entspannenden Effekt. Jennifer Clement verliert sich dabei nicht in Gefühlen und inneren Gesprächen, ganz gegenwärtig lässt sie die Frau zu Beginn durch die Stadt ziehen, bis die Grenzen immer mehr verschwimmen. Die Dialoge sind kurz, poetisch, vertraut und voller Andeutungen. 

Ein Buch, wie ein lang andauernder Tagtraum. Man fragt sich, „was ist Traum und was ist echt?“ Sind es reale Inspirationen, erweckte Geschichten oder Geister aus der Vergangenheit? Es versteckt sich viel Weisheit in den Zeilen, Erkenntnisse, Andeutungen und Poesie. Es geht um die Regeln des Lebens, starke Gefühle, wie Reue und Sehnsucht, die Liebe zu Büchern, die innere Welt und die äußere. Und es geht um eine einsame Frau, die sich als Lügnerin beschimpft, aus der Schuldgefühle und Selbstzweifel sprechen, die sich in ihrem Leben gefangen fühlt und eine Möglichkeit sucht, zu entkommen. Ein ungewöhnliches Werk, das sich in ein paar entspannten Stunden lesen lässt. Aber man sollte Muße dafür haben und eine Schwäche für geruhsame Poesie und kleinen Fantastereien.