Rezension

Wem nützt technischer Fortschritt?

Tausend Arten von Blau -

Tausend Arten von Blau
von Cheon Seon-ran

Bewertet mit 5 Sternen

Cheon Seon-ran erzählt in ihrer Utopie von Bogyeon, die ihre Arbeit als Schauspielerin verlor und ein Restaurant betreibt, ihren Töchtern Yeonjae (Schülerin mit Interesse an Robotik) und Eunhye, die nach einer Polioerkrankung im Rollstuhl sitzt, dem Rennpferd Today und dem humanoiden Jockey-Roboter C27, genannt Koli (brokkolifarben lackiert). In Nebenrollen u. a. der junge Reporter  Woo Seoyin, der über Rennsport recherchiert.

Koli, eigentlich C27,  ist auf einer koreanischen Rennbahn Jockey-Roboter des Spitzenpferds Today. Weil ein Chip auf den Boden fiel und irrtümlich in den Behälter für die Roboterproduktion geworfen wurde, erhielt Koli umfangreiches Selbstlern-Material zum Thema Sprache. Das doppelte menschliche Versagen hätte durch den Einsatz von Maschinen verhindert werden können. Die Geschichte spielt in der nahen Zukunft nach 2035, in der Roboter mit begrenzter Intelligenz für einfache Arbeiten eingesetzt werden. Koli, der in menschlicher Gestalt konstruiert wurde, hat aus seinem irregeleiteten Chip erstaunlichen Nutzen gezogen. Er verfügt über einen Wortschatz von 1000 Wörtern, denkt über die Blautöne des Himmels nach, über Motive menschlichen Handelns – und kann Todays Körpersprache erspüren. Dass Koli Puls, Atmung und Muskelspannung des Pferds wahrnimmt und mit ihm kommuniziert, macht Rennpferd und Roboter zu einem unschlagbaren Team. Als Today wegen abgenutzter Gelenke nicht mehr laufen kann, will Koli ihn mit seinen beschränkten Mitteln retten. Er lässt sich mitten im Rennen vom Pferderücken gleiten und wird von den Hufen der Verfolger zerstört. An diesem Punkt kreuzt sein Weg den der Schülerin Woo Yeonjae, die in der Nähe der Rennbahn wohnt. An Robotik interessiert, kauft sie Kolis Trainer Minju (verbotenerweise) den Roboterschrott ab und beginnt, für ihn intelligente Beinprothesen zu konstruieren. Yeonjae ist auf der Suche nach einem alltagstauglichen Projekt für einen Wettbewerb; dass ihre Schwester Rollstuhlfahrerin ist, spielt sicher auch eine Rolle.  Während sie auf Materialsuche ist, sinnt der zerstörte Koli darüber nach, wie Today vor dem Abdecker gerettet werden kann.

Bogyeon und ihre Töchter sind Außenseiterinnen in einer nicht so fernen Gesellschaft, denen der technische Fortschritt bisher nur Nachteile brachte. Seit Bogyeons Mann tödlich verunglückte und sie den ganzen Tag im Restaurant schuftet, lastet ein großer Teil der Hausarbeit auf Yeonjae. Die Schülerin fühlt sich nur mit ihrem Nutzen wahrgenommen, nicht als Person. Mit Dingen kommt Yeonjae besser klar als mit Menschen. Weil Robotik für ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen als sonderbares Interesse gewertet wird, sieht sie sich allgemein gemobbt. Ihren Job im 24-Stunden-Laden hat sie gerade verloren, weil ihr Chef  lieber den Dienstleistungs-Roboter Betty angeschafft hat als ihr Mindestlohn zu zahlen. Auch Eunhuye fühlt sich vom technischen Fortschritt übergangen; denn als Rollstuhlfahrerin ist sie vom öffentlichen Raum ausgeschlossen. Der Rennsport mit seiner Wettkultur könnte hier das alltägliche Hamsterrad in der nicht so fernen Zukunft symbolisieren, die keinen Raum mehr für Freundschaft und Solidarität lässt. In Yeonjaes Welt haben bisher Männer Nanobots entwickelt - und Frauen kochten. Schon Yonjaes Mutter war einst in einer Prüfung gescheitert, weil sie von der Frage überfordert war, was Technik den Menschen bringen könnte. Damit Yeonjae ihre Begabung für diese Gesellschaft einsetzen kann, muss die sie zunächst als gleichberechtigtes Mitglied akzeptieren.

Die Geschichte des irrtümlich mitfühlenden Roboters und „seiner“ Helfer wird zirkulär erzählt, teils von Koli als Icherzähler; sie beginnt und endet mit Kolis geplantem Sturz vom Pferd. Dass in Cheons utopischem Szenario Robotern menschliche Silhouetten angepasst werden, konnte mich zwar wenig begeistern. Davon abgesehen wirkt Cheons Utopie originell und empathisch. Die  Frage, wozu Technik nützt, verknüpft Cheon Seon-ran mit dem Schicksal jener, denen technischer Fortschritt bisher nur Nachteile gebracht hat.