Rezension

Wer war die eigene Mutter?

Maman -

Maman
von Sylvie Schenk

Bewertet mit 4.5 Sternen

Wer war die eigene Mutter? Autofiktion - die Autorin webt ein schemenhaftes Bild einer zu Lebzeiten oft unzugänglichen Frau...

Eine Annäherung an die eigene Mutter und eine schmerzhafte Abrechnung: 1916 wird Sylvie Schenks Mutter geboren, die Großmutter stirbt bei der Geburt. Angeblich war diese eine Seidenarbeiterin, wie schon die Urgroßmutter. Aber stimmt das? Und welche Geschichte wird den Nachkommenden mit auf den Weg gegeben? Als Kind leidet Sylvie Schenk unter dieser Unklarheit, als Schriftstellerin ist sie deshalb noch immer von großer Unruhe geprägt. Mit poetischer Präzision spürt sie den Fragen nach, die die eigene Familiengeschichte offenlässt. „Maman“ ist waghalsiges Unterfangen und explosive Literatur zugleich. (Verlagsbeschreibung)

Dies war mein erster Roman von Sylvie Schenk, aber voraussichtlich nicht mein letzter. Die gebürtige Französin schreibt seit 1992 Romane und Kurzgeschichten auf Deutsch, obschon sie 22 Jahre lang in Frankreich aufwuchs. Alleine schon die Tatsache, dass sie nicht in ihrer Muttersprache schreibt, löst bei mir Bewunderung aus. Sylvie Schenk formuliert hier in diesem Roman präzise und schnörkellos, durchsetzt mit poetischen Passagen, und nähert sich so dem Leben ihrer eigenen Mutter Renée an.

Wie viel weiß man eigentlich von den eigenen Eltern - abseits ihrer Elternrolle? Diese Gedanken gingen mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf, und tatsächlich gibt es auch in meiner Familie Leerstellen, die heute nicht mehr gefüllt werden können. Aber die Mutter Sylvie Schenks war zeitlebens im Grunde eine Persona non grata - unerwünscht, ungeliebt, ungewollt. Sie war die Tochter einer Seidenarbeiterin, die bei ihrer Geburt 1916 verstarb - eine unverheiratete Frau, die vermutlich durch ihren zum Überleben zwingend notwendigen Nebenjob als Prostituierte während des Ersten Weltkriegs schwanger wurde. Vater unbekannt.

 

Ich werde nie erfahren, woher meine Mutter stammt. Meine Geschwister und ich können nur das trockene, bürgerliche Vatererbe dokumentieren. Die Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter, die Textilarbeiterinnen und Wäscherinnen sind zu einem weißen Elefanten unserer Fantasie geworden, ein Tier, das uns immer noch weiter in ausgefranste Gebiete zieht.

 

Als Bastard, als Waise, als Frühgeborenes hat Renée weder gute Überlebenschancen noch Zukunftsaussichten. Sieben Monate in der Obhut der Fürsorge, dann als Pflegekind auf einem abgelegenen Bauernhof, wo traumatisierende Erlebenisse erduldet werden mussten, die zeitlebens Spuren hinterließen. Mit fünf Jahren dann die Adoption durch ein gutsituiertes, elternloses Paar, wo Renée endlich sprechen lernte und Liebe erfuhr, und dennoch stets das Gefühl hatte, nicht wirklich dazuzugehören. Später die arrangierte Ehe mit einem Zahnarzt, durch die Renée fünf Kinder zur Welt brachte - vier Töchter und einen Sohn. Eines davon war Sylvie.

Eine Mutter, die unnahbar war für ihre Kinder - nur den Babys gegenüber konnte sie ihre Liebe zeigen. Eine Mutter ohne Zärtlichkeiten und ohne Lächeln, für die es die größte Schande war, wenn eine der Töchter mit einem unehelichen Kind schwanger war. Eine Mutter, die früh verstarb und die offene Fragen hinterließ. Sylvie Schenk versucht sich hier an Antworten.

Einfühlsam folgt die Autorin dabei den Spuren: durchforstete Dokumente, gesammelte Erinnerungen, Gespräche mit Familienmitgliedern - und die Lücken gefüllt mit fantasievollen Möglichkeiten. Lose aneinandergereihte, nicht chronologisch gehaltene, kurze Kapitel folgen der Frau, die zeitlebens eine Fassade blieb, kaum einmal etwas von sich preisgab, Fragen auswich und sich in Schweigen hüllte. Der Roman ein Versuch zu verstehen, eine Annäherung - keine Liebeserklärung.

 

Meine Mutter darf mir nicht ins Nichts oder ausschließlich in ihren Frust und Hass abdriften, mein Text darf auch kein "luftiger Sarg aus Worten" werden, er ist meine erste und letzte Umarmung. Schreiben. Streicheln. Festhalten.

 

Dieser Roman stand auf der Shortlist des diesjährigen Buchpreises - mich hat er beeindruckt.

 

© Parden