Rezension

"When you can't move forward, look behind"

Hunted - Carla Norton

Hunted
von Carla Norton

Bewertet mit 5 Sternen

~~Wow. Ich habe diesen Thriller an einem Abend durchgelesen – und schreibe die Rezension bewusst in deutscher Sprache, um möglichst viele Leser anzusprechen.
Zuerst die Fakten:
Die Autorin hatte zuerst als Gerichtsjournalistin gearbeitet und Sachbücher geschrieben, sogenannte „True-Crime-Stories“. Dann folgte ihr Debüt für das Genre Thriller mit “The Edge of Normal” (deutsch: „Und nachts die Angst“)– bereits mit der Heldin dieses Buches, Reeve. Ich habe dieses Debüt (noch) nicht gelesen – es war auch für die Lektüre von „Hunted“ nicht notwendig.
Was etwas verwirrend ist:
„Hunted“ ist der Titel, der in UK für den zweiten Roman genutzt wurde und liegt mir vor,
ich hänge einen Scan an, da ich die Covergestaltung sehr passend finde (um das zu verstehen, muss man das Buch dann aber schon lesen),
"What does not kill her" heißt das Buch im US-Original,
in Deutschland "Und morgen dein Tod".

„When you can’t move forward, look behind“ ist eigentlich nicht (mehr) das Problem von Reeve: Als sie noch Reggie hieß, wurde sie im Alter von 12 Jahren gekidnappt und von ihrem Entführer Daryl Wayne Flint vier lange Jahre gefangen gehalten. Vor sieben Jahren kam sie frei, Flint ist seitdem in Gewahrsam und hinter Reeve liegt eine erfolgreiche Therapie, vor ihr ein selbstbestimmtes Leben als Studentin mit etwas mehr an Ballast.
Eigentlich – denn Flint entkommt.

Die Autorin hält das gesamte Buch über die Spannung aufrecht – die Handlung ist üblicherweise in der Gegenwartsform geschrieben und wirkt dadurch sehr unmittelbar. Dazu wechselt die Perspektive des in der dritten Person geschriebenen Roman mit jedem Kapital zwischen den verschiedenen Personen, meist sind diese Kapitel nur zwei bis vier Seiten kurz, ohne dass das auf mich konfus wirkte, eher trieb es die Handlung dynamisch voran. Zur Überschrift wird jeweils der Ort genannt; die Zeitschiene ist mehrheitlich chronologisch.

Was jedem klar sein muss: Flint ist ein sadistischer Pädophiler, er hatte Reggie nicht gefangen gehalten, weil er „so nett“ ist. Die Autorin geht hiermit jedoch auf besondere Art und Weise um: ins Detail geht sie nur bei der aktuellen Handlung. Was sich in der Vergangenheit abgespielt hat, blättert sie nur ganz allmählich auf, ohne dass der Leser sich mit dem Opfer durch lange explizite Seiten hindurch quälen muss. Die Wirkung entfaltete sich für mich jedoch umso subtiler: so wird fast nebenbei erwähnt, dass Reeves Haar früher schlimm aussah oder dass sie sich häufig die linke Hand massiert – warum, das wird erst allmählich aufgelöst. Oft blieb ich an so einem Satz im Buch hängen: „Get everything ready first, decide on target later.” S. 92 wird da als Motto von einem weiteren der Akteure genannt – während ich noch „die Autorin meint doch hier nicht“ dachte, wird das wirklich volle Ausmaß erst im weiteren Verlauf deutlich. „Psycho-Thriller“ passt hier sicher gut.

Warum nun tut sich Reeve das an, involviert zu sein in die Jagd nach ihrem Peiniger? “Their conversation bothers her for the rest of the day. It dogs her around campus. It nags her on the way home. It worries her as she orders a take-out dinner from a Thai restaurant. And just after she enters her door, as she’s lifting the fragrant meal out of its papier sack, the realization sinks its claws into her chest. Her breath stops. She goes utterly still, weighing the cost of the struggle, but sees no option but surrender.” S. 80 Sie kann nicht anders: “When you can’t move forward, look behind” heißt es mehrfach im Buch.

Was ich beachtlich finde, ist der Spagat, der Carla Norton in mehrfacher Hinsicht gelingt: den Kunstgriff, unbeschreibliches nicht voyeuristisch darzustellen, indem man den Horror mehr in der Vorstellung des Lesers stattfinden lässt, ihn sich aus Andeutungen herauslesen lässt, hatte ich ja schon beschrieben. Weiteres gelingt ihr über die Perspektivwechsel, speziell zum Täter hin: sie lässt uns mit ihm auf der Lauer liegen, bis zu Momenten, wo aus seiner Jagdlust nunmehr Frust wird – eine durchaus verstörend gelungene Leseerfahrung. Die Familie Flints wird als ganz eindeutig dysfunktional dargestellt, ohne dass man das auch nur kurz als Entschuldigung für seine Handlungen akzeptieren mag, auch dieses ein großer Verdienst der Autorin. Und letztlich gelingt ihr die Auflösung aller Handlungsfäden, wobei beeindruckend dargebracht wird, inwieweit auch Zufälle mit beteiligt sind an Verschleierung oder Aufdeckung von Ereignissen, Zufälle, auch bedingt durch persönliche Eitelkeiten oder Ziele außerhalb des „großen Ganzen“. Zusammengefasst nochmals „wow“!