Rezension

Who the f*** is Alice?

Sister, Sister - Zwei Schwestern. Eine Wahrheit. - Sue Fortin

Sister, Sister - Zwei Schwestern. Eine Wahrheit.
von Sue Fortin

Bewertet mit 4 Sternen

Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Clares Vater mit ihrer Schwester nach Amerika gegangen ist. Niemand wusste, was aus ihr geworden ist. Bis ein Brief von Alice eintrifft, in dem steht, dass sie gerne ihre Familie kennenlernen will. Nach dem ersten Treffen fallen Clare Ungereimtheiten auf. Bildet sie sich das nur ein oder führt die lang Verschollene etwas in Schilde?

"Sister, Sister" von Sue Fortin ist ein guter Psychothriller, der auf der Beziehungs- beziehungsweise Familienebene angesiedelt ist.

Das Thema an sich finde ich recht interessant. In jungen Jahren verliert man ein enges Familienmitglied aus den Augen. Man findet es nicht, setzt aber vieles daran, weiß nicht einmal, ob dieser Mensch überhaupt am Leben ist und plötzlich steht die Person sozusagen vor der Tür. Wenn das kein Stoff für Gänsehaut ist!

Clare ist erfolgreiche Anwältin und lebt mit Kindern, Ehemann und ihrer Mutter in einem ansehnlichen Haus. Das Glück ist fast perfekt, wenn sie nur wüssten, was mit Alice geschehen ist. Als Clares Vater die Familie vor zwanzig Jahren verlies, hat er die kleine Schwester mit nach Amerika genommen. Seither haben sie nie wieder etwas gehört oder gesehen und wissen nicht einmal, wo sie abgeblieben ist. 

Zwar setzten Mutter und Tochter einiges daran, die Verschollene aufzuspüren, allerdings ohne Erfolg. Kein Privatermittler konnte herausfinden, wohin der Vater mit Alice verschwunden ist. 

Eines Tages nimmt Alice Kontakt mit ihrer Familie auf. Sie freuen sich, strahlen, die Mutter ist absolut überwältigt und sie nehmen die junge Frau, die sie nun ist, gerne wieder in der Familie auf. 

Doch nach und nach fallen Clare seltsame Details an ihrer Schwester und ihrem Verhalten auf. Trifft sie sich mit ihrem Chef? Was macht Alice mitten in der Nacht bei ihrem Mann? Und wieso nimmt sie ungefragt Kleidung aus Clares Schrank?

Alles in allem war es packend zu lesen, obwohl ich mich nach einiger Zeit wegen der Figuren gewunden habe. Die Handlung ist - Kritik hin oder her - jedenfalls großartig aufgebaut und hat Spaß gemacht. 

Atmosphärisch sind mir einige Unstimmigkeiten aufgefallen, die der Spannung etwas die Fahrt genommen haben.

Clare als toughe Anwältin betont zum Beispiel immer wieder, wie wichtig ihr die Trennung von Berufs- und Privatleben ist. Weniger dazu gepasst hat, dass ihre Kollegen ein alter Freund der Familie und ihr Ex-Freund sind. Laufend wurden persönlichen Angelegenheiten in den Räumlichkeiten der Kanzlei erörtert, was nicht zur Haltung und der Wahrnehmung der Hauptfigur passte.

Die Reaktion von Clares Ehemann auf die Schwester und die Situation allgemein fand ich äußerst fragwürdig. Natürlich sind Menschen verschieden, aber wenn mir mein Mann in einer wichtigen Angelegenheit nicht glaubt, wäre das für mich ein Trennungsgrund. Ich verstand nicht, dass Clare gegen eine Mauer rannte, wenn es darum ging, den Rat ihres Mannes einzuholen, obwohl sie ständig betont, wie sehr sie ihn liebt und wie gut sie sich verstehen.

Nachdem ich meine Kritik geäußert habe, komme ich zu lobenden Worten, weil davon gibt es genug. 

Es war ausgesprochen packend zu lesen und ich bin in die Gefühlswelt von Clare eingetaucht. Ihre Emotionen waren für mich sogar körperlich spürbar, obwohl ich nur eine Beobachterin von Außen war. Clare stellt sich und ihren Eindruck von der Schwester in Frage, zweifelt an ihrem Urteilsvermögen und begibt sich selbst in eine verstrickte Falle, aus der sie kaum aus eigener Kraft entkommen kann.

Die Atmosphäre war süß-sauer und hat einen klebrigen Happy-Family-Dunst über die Thriller-Stimmung gelegt, was dem Roman eine besondere Richtung verleiht. Obwohl auf der Hand liegt, dass etwas im Argen ist, war es schwierig, zu einer handfesten Einschätzung zu kommen. Weder Clare noch ich konnten Verdächtigungen und Theorien untermauern. Es dauerte, bis die erste Ahnung greifbar geworden ist. 

Letztendlich habe ich mich immens gut unterhalten und ich bin flott durch den Thriller gekommen, weil ich wissen wollte, was es mit Clare und Alice auf sich hat. Der Schluss ist merklich überladen, wie es meistens dem Genre entspricht. Dennoch ist die Handlung bekömmlich und angemessen abgeschlossen, sodass man das Buch zufrieden zur Seite legt.