Rezension

Wichtige Fakten zusammengetragen, aber leider mit vielen Schwächen

Wir können doch nicht alle nehmen! - Livia Klingl

Wir können doch nicht alle nehmen!
von Livia Klingl

Bewertet mit 3 Sternen

Zum Inhalt

Tagtäglich werden Menschen über das Mittelmeer nach Europa geschleust. Tagtäglich ertrinken Flüchtlinge im Meer. Doch die tatsächlichen Zahlen werden nicht genannt, schlimmer noch – die breite Öffentlichkeit interessiert sich für die Toten im Mittelmeer schlichtweg nicht. Um das öffentliche Interesse zu wecken, bedurfte es erst einer Katastrophe größeren Ausmaßes: Im Oktober 2013 sank ein Flüchtlingsschiff vor der italienischen Insel Lampedusa, circa 400 Menschen kamen dabei ums Leben. Es war nicht das erste und blieb auch nicht das letzte Unglück dieser Art.

Dennoch bleibt Europa eine Festung, die mit allen Mitteln verhindern will, dass Flüchtlinge aus Afrika oder Asien Zutritt erhalten. Dabei ist die angebliche Flüchtlingsschwemme ein Märchen, denn Asylsuchende machen weniger als 0,1 Prozent der EU-Bevölkerung aus. 

Meine Meinung

In ihrem Buch „Wir können doch nicht alle nehmen!“ will Livia Klingl mit den Vorurteilen über Flüchtlinge und Asylanten endgültig aufräumen. Sie tischt erschreckende Fakten über die Flüchtlingspolitik auf und berichtet schockierende Details über den Umgang mit Asylsuchenden. Im Anschluss werden dem Leser noch in 16 Einzelporträts Menschen mit Migrationshintergrund vorgestellt.

Das tragische Unglück vor Lampedusa hatte man mittlerweile fast schon wieder vergessen, doch dann wurde im April 2015 dieser traurige Rekord geschlagen: Innerhalb einer Woche starben über 1.000 Menschen im Mittelmeer, davon alleine an einem einzigen Tag circa 700. Wieder wurden Rufe laut nach einer neuen Flüchtlingspolitik.. Die Thematik des Buches ist also momentan wieder hochbrisant.

Natürlich haben auch die wohlhabenden Länder Europas keine unbegrenzten Ressourcen. Doch es ist einfach nur pervers, wie mit Flüchtlingen umgegangen wird. Diejenigen, die die gefährliche Überfahrt überleben, werden so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat abgeschoben – wo sie dann wieder erneut unter Lebensgefahr die Flucht antreten. In der an Afrika angrenzenden spanischen Enklave Melilla spießen hohe Schutzzäune verzweifelte Afrikaner auf, während wohlhabende Pärchen vor dieser Kulisse Golf spielen. Spanische Schutzkräfte sind dazu übergegangen, zaunkletternde Afrikaner zu steinigen oder zu erschlagen und die Leichen in Marokko zu entsorgen.

Viele dieser Dinge waren mir bislang unbekannt. Man kennt nur die Zahlen und Fakten aus den Medien. Insofern hat mir dieses Buch durchaus viel Neues geboten. Wenn man z. B. das Kapitel „Was sie erwartet, auf der Flucht“ durchliest, so scheint es doch sehr zynisch, dass die EU den Friedensnobelpreis erhalten hat...
Die Autorin geht natürlich in erster Linie auf ihre Heimat Österreich ein, aber weitet die Zahlen und Fakten in der Regel auch auf Deutschland aus, so dass es nicht zu österreich-lastig ist. Der Schreibstil ist ok, manche Stellen fand ich etwas hochtrabend, doch alles in Allem ist er gut lesbar.

Allerdings haben mich einige Dinge an diesem Buch doch ziemlich gestört:

1. Es sind leider fast keine Quellenangaben vorhanden, auch Literaturverweise fehlen gänzlich. Dafür habe ich gleich mehrere Male das Wort „Wikipedia“ gelesen, was mir sauer aufgestoßen ist. Nichts gegen Wikipedia per se, aber in einem Sachbuch sollte man es niemals als Quelle nennen, sondern sich zumindest die Mühe machen, die bei Wikipedia genannten Originalquellen nachzuprüfen. Wenn man ansonsten sowieso keine Quellen nennt, hätte man diese dann auch weglassen können, das wäre bei mir noch besser angekommen, als Wikipedia zu nennen.

2. Die Autorin differenziert nicht zwischen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten. Sie zeigt die furchtbaren Situationen von Flüchtlingen auf, plädiert für eine offene Flüchtlingspolitik, doch wenn sie positive Beispiele für Integration wie z. B. den wirtschaftlichen Nutzen für die Aufnahmeländer aufzeigt, dann handelt es sich hier fast ausnahmslos um Arbeitsmigranten oder ehemalige Gastarbeiter, die freiwillig nach Europa gekommen sind, hier arbeiten (dürfen) und nicht abhängig vom Staat sind. Teilweise werden Beispiele aus der längst vergangenen Zeit der Gastarbeiter genannt, und Zuwanderung wird stellenweise arg romantisiert. Dieser Sprung zwischen beiden Gruppen und das Vermischen zu einem Einheitsbrei, nur um die Message „Ausländer sind gut für Europa!“ durchzudrücken, ist für mich nicht nachvollziehbar und unprofessionell.

3. Gerade einmal drei der 16 Porträtierten waren Asylanten bzw. Flüchtlinge, die erst vor Kurzem nach Österreich kamen. Alle Anderen sind schon -zig Jahre in Europa oder wurden hier (als Kinder von Immigranten) geboren. Ich hätte mir hier mehr aktuelle „Fälle“ gewünscht. Dieser Teil ist eher allgemein der Immigration in den letzten circa 30 Jahren gewidmet und deshalb in meinen Augen eine Themaverfehlung.

Dieses Buch will über die Situation von Flüchtlingen aufklären und für mehr Fremdenfeindlichkeit und Offenheit sowie ein starkes Umdenken in der Asylpolitik plädieren. Auch wenn ich generell die Meinung der Autorin teile, so hätte ich mir doch mehr Reflexion gewünscht. Livia Klingl zeigt keinerlei Lösungen auf, sondern betont lediglich die Schlechtigkeit der Asylpolitik einerseits und die vielen angeblichen Vorteile für Europa durch die Aufnahme von Flüchtlingen andererseits. Auch wenn ich das Buch an und für sich interessant finde und viel dazugelernt habe, so fallen die oben genannten Kritikpunkte für mich so stark ins Gewicht, dass ich nur 3 Sterne vergeben kann.

Ich spreche dennoch eine uneingeschränkte Leseempfehlung aus, denn dieses Thema geht uns alle an, ob wir wollen oder nicht!