Rezension

Wie gut kennst du deine Familie?

Am Anfang war die Schuld - Jane Shemilt

Am Anfang war die Schuld
von Jane Shemilt

Bewertet mit 4.5 Sternen

Jenny Malcom ist sich sicher, alles im Griff zu haben. Ihren Job als Ärztin, ihre Rolle als Mutter von drei Teenagern und ihre Ehe. Alles läuft perfekt. Bis zu dem Abend, an dem ihre fünfzehnjährige Tochter nicht nach Hause kommt. Bange Stunden des Hoffens folgen, bis klar wird: Naomi ist spurlos verschwunden. Und plötzlich bricht Jennys perfekt organisiertes Leben zusammen. Während die Ermittlungen der Polizei auf Hochtouren laufen, steht die Familie Malcom vor den Trümmern ihres Lebens. Und Jenny beginnt zu ahnen, dass sie ihre Tochter doch nicht so gut kannte, wie sie immer gedacht hat …

Der Roman hat zwei Zeitebenen. Erzählt wird die ganze Geschichte von Jenny. Eine Erzählebene spielt ein Jahr nach Naomis Verschwinden und eine gibt dem Leser Einsicht in die Geschehnisse von den Tagen vor und nach ihrem Verschwinden, quasi als Rückblende. Besonders gut hat mir gefallen, dass man aus der Gegenwartsperspektive schon Dinge klar waren bzw. angedeutet wurden und man so unbedingt erfahren wollte, was das passiert ist. Diese Andeutungen erzeugen eine enorme Sogkraft. Anfangs sind die Gegenwartsszenen noch recht kurz und relativ inhaltslos. Das fand ich anfangs etwas störend, aber mit weiterem Handlungsverlauf wird klar, dass Naomis Verschwinden in der Vergangenheit nicht geklärt werden konnte und so rückt die Gegenwart immer mehr in den Fokus sowie die Frage nach ihrem Aufenthaltsort und der Frage, ob sie überhaupt noch am Leben ist.

Gleich am Anfang ist klar, dass Naomi verschwunden ist bzw. sein wird. Den Schmerz, den Verlust und die Hilflosigkeit ihrer Mutter spürt man den ganzen Roman hindurch. Die Grundstimmung ist also von Anfang an relativ bedrückend und ist vielleicht nicht für jeden Leser etwas. Denn an dieser Atmosphäre ändert sich im Verlauf des Romans nicht wirklich viel. Vielmehr werden wir Zuschauer, wie die Familie Malcom Stück für Stück zerbricht. Jenny muss nicht nur die Fragen stellen, ob sie ihre Tochter überhaupt kannte, sondern muss sich diese Frage auch bei ihrem Ehemann Ted und den beiden Söhnen stellen. Ed ist der einzige, der sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit seinem Ärger Luft macht über Jennys Rolls als Mutter, die auf Grund ihres Berufs als Ärztin oft Zuhause abwesend ist. Allerdings wird auch deutlich, dass besonders Ed von seinem Vater, der weitaus weniger Zuhause ist als Jenny, ein realitätsfernes Bild hat. Eds Zwillingsbruder, Theo, ist der einzige, der noch mit seiner Mutter wirklich redet ohne ihr mit Nicht-Beachtung gegenüber zutreten. Naomi ist als Persönlichkeit schwer greifbar, da man sie nur durch die Erzählungen von anderen kennenlernt. Klar ist, dass sie ihren Eltern sehr viel verheimlicht hat und diese sie nicht richtig kannten.

Bei diesem Roman handelt es sich weniger um einen Thriller als mehr um eine Familientragödie. Mich hat der dazu gebracht sich damit auseinander zu setzen, ob wir heutzutage unter dem Gewicht unser ganzen Verpflichtungen, allen voran unserem Berufsleben, noch genug Zeit haben für die Menschen, die uns wirklich wichtig sind. Ich denke umso weniger Zeit man sich für diese nimmt, desto mehr gleiten uns deren Sorgen, Freuden und Nöte aus den Händen. Natürlich kann man Jenny diesen Vorwurf machen, dass sie ihren Beruf als Ärztin zu viel Priorität einräumt, soviel, dass ihre eigenen Kinder nicht einmal anrufen dürfen während der Arbeitszeit. Dennoch kann man diesen Vorwurf genauso ihrem Mann machen. Die Last der Familienversorgung scheint nur auf ihren Schultern zu lasten, genauso die Vorwürfe, die sie sich von ihrem Sohn Ed anhören muss.

Das Buch hat zugegebenermaßen einige Längen, aber mochte den Schreibstil sehr gerne und Jane Shemilt versteht es den Leser meinen kleinen Häppchen und abrupten Zeitwechseln zum Weiterlesen zu verführen. Der Spannungsbogen bleibt immer aufrecht und ich war förmlich getrieben von der Frage, wo zur Hölle Naomi ist. Das Ende kommt und man denkt es wäre nun alles aufgeklärt. Doch auf den allerletzten Seiten erfahren wir die Wahrheit. Ein Ende, mit dem ich nicht gerechnet hätte und der doch einige Fragen offen gelassen hat.

Jane Shemilts Roman hat alles für mich, was einen guten spannenden und trotzdem authentischen Roman ausmacht. Die Melancholie, die Roman umgibt, muss man mögen und sich darauf einlassen. Es ist ein Roman, der lange nachwirkt und einen zur Selbstreflexion zwingt.